„Wir spielen ein Spiel: Lauft wie ein Mädchen und dann wie ein Junge!“ sagt die Trainerin Doris Saba. Durch die Stuhlreihen läuft eine junge Frau in Turnschuhen breitbeinig, während die andere auf Fußspitzen ein Model auf dem Laufsteg imitiert. In einer Schule im armenischen Viertel „Bourj Hammoud“ im Norden der libanesischen Hauptstadt Beirut sitzen mit Abstand zueinander junge Frauen im Alter zwischen 13 und 18 Jahren. Sie lachen, als ihre Mitstreiterinnen imitieren, wie ein Junge isst – der imaginäre Burger wird hastig in den großen Mund gestopft – und wie derselbe Akt als Mädchen geschauspielert wird – mit imaginärem Messer und Gabel und spitzen Lippen. „Die Gesellschaft zwingt uns Normen auf, beim Laufen, beim Sport, ja selbst beim Essen!“ stellt Trainerin Saba fest, die jungen Frauen klatschen begeistert.
Sie lernen, welche Geschlechterrollen und Stereotype in Filmen über die Bildschirme flimmern, um es später besser zu machen und andere Geschichten zu erzählen. Die „Mädchen für Wandel“ – so der Projektname – lernen, wie sie ein Manuskript schreiben, filmen, Musik auswählen und das Material zu einem Video zusammenschneiden. In viertägigen Workshops bekommen sie eine Einführung ins Filmemachen und erstellen selbst kleine Kurzfilme, die später auf internationalen Filmfestivals zu sehen sein sollen.
„Audiovisuelle Medien sind eine starke Waffe: Sie fördern Stereotype und verzerrte Schönheitsideale, was dazu führt, dass Kinder sich nicht mögen. Es gibt ein ganzes System, das Kinder dazu erzieht zu glauben, dass sie nicht genug sind“, sagt Sam Lahoud, der Gründer der Beiruter Filmgesellschaft („Beirut Film Society“). Der Zusammenschluss libanesischer Filmemacher*innen fördert ein kritisches Kino, das sich mit den Herausforderungen der Gesellschaft beschäftigt. Lahoud hat sich einem Kino verschrieben, das nicht nur Action, Horror oder romantische Komödien zeigt, um das Publikum zu unterhalten, sondern das „die Gesellschaft abbildet und einen Wandel bringt“. Als Teil ihrer Mission fördert die Filmgesellschaft auch den Nachwuchs.
Die jungen Frauen wohnen alle im Umkreis von einem Kilometer zum Beiruter Hafen. Dort explodierten am 4. August 2020 knapp 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat. Mindestens 207 Menschen starben, über 6.500 wurden verletzt, davon rund 150 mit bleibenden Schäden.
Große Spendenbereitschaft
„Die Explosion war kein Unfall, sondern bewusste Verantwortungslosigkeit“, sagt Jenny Munro, Friedensfachkraft des forumZFD in Beirut. „Wir verstehen sie als Ausdruck jahrelanger Korruption und fahrlässiger Nachlässigkeit.“ Der Hafen von Beirut ist von institutioneller Korruption und Schmuggel geprägt. Obwohl sowohl der Präsident als auch Mitarbeitende des Hafens, des Zolls, sowie der Justiz von der gefährlichen Fracht in den Warenhäusern am Hafen wussten, wurde das Thema vernachlässigt und die Beseitigung verschleppt, bis es zu spät war.
Die Leittragenden waren die Menschen, die ihr Leben, ihre Verwandten oder ihr Zuhause verloren. Während seitens der libanesischen Regierung kaum beziehungsweise nur sehr verspätet Hilfe für die Betroffenen und für den Wiederaufbau zur Verfügung gestellt wurde, war die Solidarität in der lokalen und der internationale Gemeinschaft groß. Direkt am nächsten Tag begannen die Menschen, die Straßen von Glas und Schutt zu befreien. Lokale Organisationen stellten Hilfszelte auf und verteilten Essen. Über internationale Organisationen und Bekannte spendeten Menschen aus der ganzen Welt, um Häuser und Wohnungen wieder aufzubauen oder medizinische Hilfe zu ermöglichen. Auch Menschen in Deutschland haben unter anderem über das forumZFD gespendet, darunter Mitarbeitende der Stadt Köln sowie viele Einzelbeträge. 80.000 Euro kamen so zusammen.
„Mit so vielen Spenden hatten wir gar nicht gerechnet“, berichtet Jenny Munro. „Uns war sehr wichtig, dass das Geld einen Unterschied macht. Es sollte keine einmalige Aktion werden, denn unser Fachgebiet ist es nicht sofortige Hilfe zu leisten und Haustüren zu reparieren, sondern den Blick dafür zu weiten, was danach kommt.“ Deshalb hat das forumZFD-Team mit den Spenden lokale Organisationen unterstützt, die sich für langfristige Konflikttransformation, gesellschaftspolitischen Wandel, Rechenschaftspflicht und Transparenz einsetzen. „Vielleicht wird das Geld das Land nicht sofort verändern, aber es säht die Samen für einen langfristigen Wandel“, sagt Munro.
Insgesamt sechs Projekte konnte das forumZFD mit den Spenden unterstützen (siehe Infokasten), darunter auch das Projekt „Mädchen für Wandel“. Die Film-Workshops helfen den jungen Frauen, das Erlebte zu verarbeiten. „Die Explosion war ein sehr traumatisches Erlebnis“, erzählt die 15-jährige Teilnehmerin Lori Kalousdian. „Ich erinnere mich, dass ich lange Zeit sehr pessimistisch war. Ich hatte keine Hoffnung mehr und dachte, es würde wieder passieren und wir würden alle sterben. Ich habe nichts Gutes im Libanon mehr gesehen.“ Aber dann habe sie sich auf die positiven Aspekte konzentriert: „Am Tag nach der Explosion hat sich der ganze Libanon vereint. Obwohl ich in der Nacht nicht schlafen konnte, bin ich am nächsten Tag auf die Straße gegangen, um sauber zu machen. Besonders die libanesische Jugend hat sich zusammengetan, um ihr Land wiederaufzubauen – weil es der Staat nicht übernimmt.“
Kalousdian sitzt mit ihrer Gruppe um einen Tisch und zeichnet in kleinen Kästen, wie die einzelnen Szenen ihres Kurzfilms später aussehen sollen. Darunter schreiben sie, in welcher Perspektive die Kamera das Geschehene zeigen soll. In dem Film soll es um die Explosion gehen. „Wir wollten keinen traurigen Film machen“, erklärt die 15-Jährige. „Daher haben wir entschieden, dass es einen Hauptcharakter geben soll, der etwas malt. Das Kunstwerk wird die Konturen der Explosion haben, aber in Form eines Baumes: Er soll symbolisieren, dass es nach jedem schlimmen Ereignis auch Hoffnung gibt. Es wird nicht den Rest deines Lebens bestimmten. Du wirst stärker und mutiger dadurch werden, daran wachsen.“
Traumatische Erlebnisse verarbeiten
Weil bei der Arbeit an den Filmen traumatische Erlebnisse wieder hochkommen können, ist Nesrine Al Gerr als beratende Psychologin an allen Workshop-Tagen dabei. Sie zeigt einen Zettel, darauf Smileys, die verschiedene Emotionen verkörpern: Müde, enttäuscht, traurig, frustriert, verärgert, entspannt oder glücklich. „Zunächst frage ich die Mädchen, wie sie sich fühlen“, erklärt die Psychologin. „Danach spielen wir ein Spiel: Jede soll der anderen ein Kompliment machen. Das hilft, sich gut zu fühlen.“ Die Psychologin redet nicht direkt über die Explosion oder traumatische Erlebnisse, aber sie gibt den Mädchen Bewältigungsstrategien an die Hand. Auf einem Zettel können sie einige Dinge ankreuzen, die ihnen helfen, mit Stress umzugehen: Musik hören, schlafen und lesen stehen darauf, genauso wie Trampolin springen, Umarmungen, Tanzen oder auch nur Wasser trinken und atmen.
Die Psychologin hilft auch dabei, Ärger in den Griff zu bekommen. „Wenn ich merke, dass eine der Teilnehmerinnen verärgert ist, frage ich sie, ob sie sich zeichnen kann, wenn sie in dieser Stimmung ist. Dann reden wir darüber, was hinter dem Ärger steckt.“ Die meisten Mädchen bekämen die Frustration ihrer Eltern ab, berichtet Al Gerr. Daher spricht die Psychologin mit ihnen auch darüber, wie sie das abfangen und einen Streit am Eskalieren hindern können.
Viele Menschen im Libanon leiden an dem psychischen Stress, den das tägliche Leben in der Krise auslöst – und diese Krise reicht viel weiter zurück als die Katastrophe im Beiruter Hafen. Bereits vor der Explosion betrugen die Staatsschulden mehr als 80 Milliarden Euro. Jahrzehntelange Korruption und Veruntreuung haben den Staat und seine Institutionen ausgehöhlt. Im Oktober 2019 gingen deswegen hunderttausende Menschen auf die Straße und demonstrierten für politischen Wandel und bessere Lebensbedingungen. Trotz der Proteste ist der Libanon weiter kollabiert. Die Wirtschaft schrumpfte, verstärkt durch die Corona-Pandemie, und Zehntausende verloren ihre Arbeit. Die Währung hat 90 Prozent ihres Wertes verloren, Ersparnisse sind verloren und die Lebensmittelpreise so hoch, dass viele Familien hungern müssen. Die Armutsrate ist innerhalb eines Jahres von 28 auf 55 Prozent im Jahr 2020 gestiegen.
Ein Sprachrohr für die Unterdrückten
Wie geht die Gesellschaft damit um und wie können die Politiker*innen, die das Land in diese desolate Lage gebracht haben, zur Verantwortung gezogen werden? Das sind Fragen, die sich Lara Bitar und ihr Team seit Anfang 2020 stellen. Die Journalistin hat die unabhängige Medienorganisation „Die Öffentliche Quelle“ („The Public Source“) gegründet. In einem Online-Magazin berichten die lokalen Journalist*innen über die Krisen im Libanon. Sie machen aber keinen Sensationsjournalismus, sondern liefern vielmehr pointierte politische Kommentare mit Haltung im „Dienst des öffentlichen Interesses“, wie Bitar erzählt. „Mit unseren Recherchen versuchen wir, die Regierung zur Rechenschaft zu ziehen. Wir stellen uns auf die Seite benachteiligter Bevölkerungsgruppen und versuchen, ihre Perspektiven aufzuzeigen oder sie selbst zu Wort kommen zu lassen. Unser Selbstverständnis ist es, auf der Seite der Unterdrückten zu stehen und nicht als Sprachrohr einer politischen Partei oder Persönlichkeit zu dienen.“
Ihre Artikel handeln daher von der möglichen Vertreibung der Menschen aus ihren Wohnungen aufgrund von Immobilienspekulationen und Investitionen im Wiederaufbau. Sie üben Kritik an der planlosen Corona-Politik oder erklären, warum die Untersuchungen rund um die Aufklärung der Explosion stocken. Mit den Spenden, die Lara Bitar und ihr Team über das forumZFD erhalten haben, konnte die Redaktion ihr arabischsprachiges Angebot ausweiten und so ein breiteres Publikum erreichen. Außerdem haben sie eine zwölfteilige Recherche-Reihe über die Ursachen der Krise veröffentlicht und tragen so zur Aufklärung und zur kritischen öffentlichen Debatte bei.
Wie können sie über das Zeitgeschehen berichten, ohne selbst die Hoffnung zu verlieren? Psychosoziale Unterstützung sei sehr wichtig, sagt Bitar. „Unsere Grundprinzipien sind Solidarität und gegenseitige Hilfe. Die mentale Gesundheit aller Kolleg*innen steht an oberster Stelle, über Abgabefristen und allem anderen.“ Ihre Redaktionssitzungen beginnt das Team mit einem „Temperatur-Check“: Sie teilen, was in ihrem Leben gerade passiert. „Das ist eine Gelegenheit, füreinander da zu sein. Falls beispielsweise jemand gerade mit Angstzuständen kämpft, kann jemand anderes teilen, wie er damit umgeht. In anderen Redaktionen gilt das vielleicht als Tabu, aber bei uns ist es in Ordnung zu sagen, wenn sich jemand müde fühlt oder depressiv ist. Wir wissen schließlich, dass die Situation im Land momentan sehr schwierig ist.“
„Frieden braucht Beharrlichkeit“
Mentale Unterstützung genauso wie Wiederaufbau, Essensausgaben, Heimunterricht oder außerschulische Aktivitäten – die Zivilgesellschaft im Libanon übernimmt viele Aufgaben des Staates. Keine leichte Last. „Die Leute sind erschöpft und hin- und hergerissen: Sollen sie gehen? Oder sollen sie bleiben, kämpfen und einen Unterschied machen? Das ist die Entscheidung, vor der sie stehen“, sagt Ranya Assassa, Projekt-Managerin beim forumZFD im Libanon. Daher bietet das forumZFD Selbstfürsorge-Trainings für Menschen an, die sich für andere einsetzen und schwer daran zu tragen haben. „Die Situation fordert dem Einzelnen viel ab und solange ich erschöpft bin oder mich in einem traumatischen Zustand befinde, kann ich nicht zu einem Wandel in der Gesellschaft beitragen“, erklärt Assassa. „Wenn Menschen die Möglichkeit bekommen, mit anderen ihren Stress zu teilen, das Erlebte zu verarbeiten und zu heilen, können sie wieder proaktiv zu Veränderung beitragen. Denn der Weg zum Frieden braucht Beharrlichkeit und Ausdauer.“
Julia Neumann arbeitet seit 2019 als freie Journalistin in Beirut.
Hilfe für Beirut
Mit den Spenden nach der Explosion hat das forumZFD sechs lokale Projekte unterstützt:
Das Journalismusprojekt The Public Source berichtet über die Ursachen der Krisen im Libanon.
Die Organisation Embrace betreibt die einzige Notfall-Telefonseelsorge des Landes.
Das Theaterprojekt von Seenaryo hilft Kindern, die traumatische Explosion zu verarbeiten.
Die Beirut Film Society ermutigt junge Frauen, ihre Geschichten filmisch auszudrücken und zu teilen.
26 Letters organisiert Workshops für Jugendliche aus betroffenen Stadtteilen, um Vorurteilen zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen entgegenzuwirken.
Die Lebanon Debating Society Initiative schafft Räume für kritische Debatten über die libanesische Politik.
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