Ukraine: Playback-Theater als mentaler Anker im Krieg
Auch drei Jahre nach Kriegsausbruch gibt der empathische Ansatz des Playback-Theaters Menschen in der Ukraine Halt
Seit 2001 hat sich Playback-Theater in der Ukraine etabliert. Wie jede andere Kunstform regt es die Menschen dazu an, über wichtige Lebensereignisse nachzudenken, und lehrt sie, sich selbst und Anderen intensiv zuzuhören. Mit dem Beginn der groß angelegten Invasion Russlands in die Ukraine bekam das Playback-Theater eine neue Bedeutung. Mit Unterstützung des forumZFD hilft es nun den Menschen in der Ukraine, in diesen schwierigen Zeiten Stabilität und Halt zu finden.
Das Foyer des Theaters, in dem die Aufführung stattfindet, ist ebenso faszinierend wie das Format der Show selbst. Von der Decke hängen alte bestickte Hemden, wie an unsichtbaren Fäden, zusammen mit selbstgemachten Dekorationen. In einer Ecke gibt es eine kleine Bar, an der man zwischen Rot- und Weißwein wählen kann.
„Liebe Freundinnen und Freunde, herzlich willkommen! Vielen Dank, dass ihr gekommen seid! Wir warten noch auf ein paar Gäste und fangen dann bald an“, sagt die Frau mit den schwingenden Dreadlocks und der klangvollen Stimme. „Das ist Nata“, flüstert eine Person im Publikum einer anderen zu.
Nata Vainilovych, die Leiterin der NGO „ART-Playback“, ist Schauspielerin und Leiterin des Playback-Theaters „Na Varti“ („Auf der Hut“). Jeder, der in der Ukraine mit Playback-Theater zu tun hat, kennt sie. Wie viele andere ist auch Nata durch Zufall zu dieser Kunst gekommen. Im Jahr 2009 unterrichtete sie am Kiewer Polytechnischen Institut und besuchte als Gast eine Playback-Theateraufführung. Sofort begann sie, an den Proben teilzunehmen, und das Playback-Theater wurde zu einem festen Bestandteil ihres Lebens.
Beim Playback-Theater entsteht eine besondere Verbindung zwischen Publikum und Darsteller*innen, wenn persönliche Geschichten geteilt werden.
Was ist Playback-Theater?
Das Playback-Theater ist eine Form des Improvisationstheaters, bei der zwei Praktiken im Mittelpunkt stehen: Die Zuschauer*innen teilen vor dem Publikum ihre persönlichen Geschichten, und die Schauspieler*innen setzen diese Geschichten sofort künstlerisch um.
Jede Playback-Theater-Veranstaltung wird von einer Person geleitet, die alles organisiert und die gesamte Veranstaltung von der Eröffnung bis zu den Schlussbemerkungen moderiert.
Diesmal übernimmt Nata die Leitung und sammelt Geschichten aus dem Publikum, die dann von den Schauspielerinnen auf der Bühne dargestellt und ausgelebt werden. Sie hilft auch Denjenigen, die ihre Geschichten erzählen, diese neu zu durchleben, und hat immer ein paar Taschentücher zur Hand, wenn die Emotionen überfließen.
„Die Menschen erzählen sehr unterschiedliche Geschichten. Manche sprechen über Kindheitstraumata, Verrat oder gesundheitliche Probleme, die ihr Leben stark beeinflusst haben“, erklärt Nata. Sie führt häufig Playback-Theater-Workshops für Menschen mit Behinderungen, die LGBTQ+-Community und die Roma-Gemeinschaft durch. Nach 2014 tauchten im ukrainischen Playback-Theater die ersten Geschichten über den Krieg und die Schwierigkeiten bei der Rückkehr ins zivile Leben auf. Seit 2022 haben sich solche Geschichten noch weiter verbreitet.
Geschichten schaffen Verbindung
Vor Beginn der Aufführung fragt Nata das Publikum, woher die Menschen stammen. Viele verschiedene Stadt- und Ortsnamen werden laut ausgesprochen, Fremde stellen Verbindungen zu anderen Menschen im Publikum her, die aus der gleichen Gegend kommen. „Das bringt die Menschen zusammen. Es gibt jetzt so viele Binnenflüchtlinge. Menschen aus derselben Stadt finden zueinander und sprechen über vertraute Straßen, über Gebäude, die es nicht mehr gibt. Ja, es sind schmerzhafte Erinnerungen, aber sie bauen auch Brücken zwischen ihnen“, erzählt Nata.
Als Leiterin von "ART-Playback" ist diese besondere Form des Theaters für Nata Vainilovych ein fester Bestandteil ihres Lebens.
Unter den Schauspielerinnen, die an diesem Abend auftreten, befinden sich auch vertriebene Frauen. Sie kommen ursprünglich aus Cherson, Hola Prystan, Mariupol und von der Krim. Alle diese Städte und Regionen sind entweder von den russischen Streitkräften besetzt oder stehen unter ständigem Beschuss durch russische Granaten und Drohnen. Jede dieser Frauen kam nach dem Beginn des russischen Krieges in der Ukraine zum Playback-Theater.
Oleksandra, eine Schauspielerin des Playback-Theaters „Grani“ aus Izmail, sagt: „Ich durchlebe die Geschichte, ich spiele sie nicht nur. Ich fühle sie, und sie schmerzt mich genauso wie die Person, die sie erzählt. Ich glaube, dass wir den Menschen durch diese Darstellung helfen können, ihre Geschichten loszulassen.“
Oleksandra ist Mutter von fünf Kindern und floh während einer Schwangerschaft von der Krim. Sie zog durch mehrere Städte, bevor sie in Izmail ein neues Zuhause fand. „Wenn man anderen hilft, hilft man sich selbst“, sagt sie. Für Oleksandra ist Playback ein Ort, an dem sie sie selbst sein kann, ohne gesellschaftliche Rollenerwartungen.
Auf der Bühne improvisieren sie und fünf weitere Schauspielerinnen gemeinsam und erwecken die Geschichten des Publikums zum Leben. Die Schauspielerinnen und Schauspieler müssen sich gut kennen, um sich gegenseitig zu unterstützen und in den richtigen Momenten aufeinander einzugehen.
Obwohl der Auftritt erst am Abend stattfindet, haben die Schauspielerinnen den ganzen Tag mit der Vorbereitung, der emotionalen Einstimmung und der Anpassung an die Umgebung und neue Kolleg*innen verbracht. Es ist das erste Mal, dass diese Gruppe gemeinsam auftritt. Für die Aufführung reisten sie aus Izmail und Odesa nach Kiew und brachten jeweils ihren eigenen Hintergrund und ihre eigenen Geschichten mit.
Erfahrene Playback-Schauspieler*innen weisen darauf hin, dass Playback-Theater zwar helfen kann, Schwierigkeiten zu bewältigen, Lebenssituationen und sogar ganze Lebensabschnitte zu reflektieren, dass es aber mit Vorsicht genossen werden sollte.
Herausfordernd für Publikum und Schauspieler*innen
„Wenn man nicht viel Erfahrung hat, kann es einen leicht überfordern. Aber dafür ist ja das Training da. Wenn ein*e Schauspieler*in eine Geschichte hört, die mit dem eigenen Trauma zusammenhängt und sich zu schwierig anfühlt, um sie zu spielen, signalisiert sie den anderen Schauspieler*innen, dass sie übernehmen sollen“, erklärt Oleksandra. „Beim Playback geht es darum, Anderen zu dienen, aber es geht nicht darum, sich zu opfern. Wir müssen auf uns selbst aufpassen“, fügt sie hinzu.
Viele der Schauspielerinnen sind vor dem Krieg geflohen und finden in der Theatergruppe Unterstützung.
Die anderen Schauspielerinnen des Izmail-Theaters, Tetiana und Kateryna, sind ebenfalls vertrieben worden. Beide suchten in ihrer neuen Umgebung nach Unterstützung, um zu verhindern, dass sie in diesen harten Kriegszeiten verzweifeln. Ihre Reise zum Playback begann, wie die von Nata, unerwartet mit einer Einladung, „einfach zu kommen und zuzusehen“.
Kateryna, die einst in Hola Prystan in der heute besetzten Region Cherson lebte, berichtet von ihren Erfahrungen: „Durch Playback bin ich mehr zu meinem wahren Selbst zurückgekehrt und habe viel über mich herausgefunden. Nach traumatischen Erlebnissen fühlte ich mich wie in einem Schneckenhaus, aus dem es sehr schwer war, auszubrechen. An Neujahr fasste ich den Vorsatz, an meinem Körper und meiner Stimme zu arbeiten, und zwei Monate später fand ich mich zufällig beim Playback wieder. Das war Schicksal.“ Auch Tetiana denkt über die Veränderungen nach, die sie durch das Playback-Theater erfahren hat: „Meine älteste Tochter kam zu einer Aufführung und sagte zu mir: 'Mama, du wirst jedes Mal besser und besser!' Welche größere Freude kann eine Mutter empfinden, als dies von ihrem Kind zu hören?“
Obwohl das Playback-Theater eine therapeutische Wirkung sowohl auf die Schauspieler*innen als auch auf das Publikum hat, wird es nicht als Therapie angesehen. Playback-Praktizierende sehen es als eine Kunstform, die heilen kann, wie jede andere Kunst auch. Manchmal verspüren die Menschen ein intrinsisches Bedürfnis nach Playback, sie kommen, um eine Gemeinschaft und ein Gefühl der Zugehörigkeit zu finden. Auch die COVID-19-Pandemie spielte bei diesem Bedürfnis eine wichtige Rolle.
„Die Menschen kamen mit Problemen der Isolation und der sozialen 'Verwilderung'. Ich erinnere mich an einen Fall, in dem ein Mädchen erzählte, wie es monatelang in völliger Isolation lebte, ohne jeglichen Kontakt. Ihre erste Kontaktaufnahme erfolgte durch Playback, und danach traf sie jemanden und ging mit ihm Pizza essen. Fantastisch! Das allein ist schon genug, um zu sagen, dass sich das alles lohnt“, sagt die Leiterin der NGO ‚ART-Playback‘.
Beim Playback-Theater sind die Menschen im Publikum nicht bloß Zuhörer*innen, sondern immer auch selbst Teil der Inszenierung.
Theater als Therapie
Mit dem Beginn des Krieges hat das Playback-Theater in der Ukraine eine noch wichtigere Rolle eingenommen. Obwohl sie einen gemeinsamen Feind haben, sind die Erfahrungen der Ukrainer*innen sehr unterschiedlich.
Die Gesellschaft fühlt sich oft gespalten - zwischen denen, die einen Verlust erlitten haben, und denen, die keinen erlitten haben, zwischen Militärangehörigen und Zivilist*innen, zwischen denen, die in der Nähe der Frontlinie leben, und denen, die weiter weg sind.
„Ich habe keine rosarote Brille an; das Playback wird nicht alle versöhnen, aber es kann uns helfen, mit diesen Unterschieden zu leben und einander besser zu verstehen“, sagt Nata. Sie erwähnt, dass Psycholog*innen des Vertriebenenzentrums „IAmMariupol“ den Menschen manchmal empfohlen haben, Playback-Theater zu spielen, um den Verlust zu verarbeiten, wenn der Schmerz nicht mehr akut ist. Die wichtigste Regel dabei ist, keinen Schaden anzurichten und zu vermeiden, dass etwas berührt wird, das die Traumatisierung noch verstärken könnte.
Unterstützung durch das forumZFD tut Not
Die Kunst des Playbacktheaters in der Ukraine und die NGO „ART-Playback“ werden seit sechs Jahren vom forumZFD aktiv unterstützt. Obwohl die Arbeit mit Theatern ursprünglich nicht zum Fokus des forumZFD gehörte, sah die Leiterin des Programms in der Ukraine, Zornitsa Popova-Glozhani, die Notwendigkeit, dieses Projekt zu unterstützen. Die Leidenschaft und der Glaube von Nata Vainilovych an das Projekt waren ausschlaggebend für diese Entscheidung. Mit der Zeit wuchs die „ART-Playback“-Gemeinschaft: Anna Shestakova wurde die Vertreterin in Odesa, und 2020 begann das forumZFD, die Entwicklung des Playback-Theaters „Grani“ in Izmail zu unterstützen.
Für viele Menschen ist Kunst ein wichtiges Mittel, um den Alltag im Krieg zu verarbeiten.
Neben der Unterstützung lokaler Organisationen leistete das forumZFD auch einen Beitrag zu anderen von der Playback-Gemeinschaft initiierten Projekten. Dazu gehörte „Story Collectors“, bei dem die Teilnehmenden dokumentarisches Material sammelten und kreativ verarbeiteten.
Ein weiteres Projekt trägt den Titel „Sozio-psychologische Unterstützung für Ukrainer*innen durch künstlerische Veranstaltungen“. Diese Veranstaltungen umfassen Kunsttherapie und kreative Sitzungen, die darauf abzielen, die sozialen Beziehungen zu stärken, den Wert des Lebens wiederherzustellen und über traumatische Erfahrungen zu reflektieren.
Trotz des Ausbruchs des umfassenden Krieges leitete das forumZFD, das zuvor keine humanitäre Hilfe geleistet hatte, seine Ressourcen umgehend um, um den dringendsten Bedarf zu decken: Lebensmittel, Wasser, Medikamente und Hygieneartikel. Sobald diese Grundbedürfnisse erfüllt waren, nahm das forumZFD seine kulturellen Projekte wieder auf und erkannte das wachsende Bedürfnis der Menschen, innezuhalten, sich selbst und einander zuzuhören.
„Die Ukrainer*innen haben ein starkes Bedürfnis, ihre Geschichten zu erzählen, anderen zuzuhören, Empathie zu empfinden und Teil einer Gemeinschaft zu sein, die sie versteht.“
Gegenwärtig wird das Playback-Theaterprojekt weiter ausgebaut: In Czernowitz und Winnyzja finden Schulungen für Schauspieler*innen statt. Nata Vainilovych betont die Bedeutung dieser sozialen Kunstform, die Inklusion fördert, den Menschen ermöglicht, unterschiedliche Erfahrungen zu hören und die Unterstützung zu spüren, die Heilung bringt.
Nach der Aufführung laden die Schauspielerinnen das Publikum zu einer Fragerunde und zu informellen Gesprächen ein. Fast alle Besucher*innen der Vorstellung bleiben für die Diskussion. Gäbe es keine Ausgangssperre, könnte der Gedankenaustausch, die Umarmungen und die Gespräche noch viel länger dauern, denn diese Verbindung ist für alle Anwesenden sehr wichtig.
Yevheniya Sobolyeva berichtet als freie Journalistin in Odesa aus der Ukraine.