Ende Juni in Kyjiw. Es sind bunte Objekte aus dem Alltag, die in der Stille des Museums davon berichten, wie schnell Kinder in der Ukraine erwachsen werden müssen. Ein Real Madrid-Fußball-Trikot aus der Stadt Kramatorsk im Donbas, aus dem der damals elfjährige Andrii längst herausgewachsen ist. Ein Schlüsselbund, der zu einer Wohnung in der von Russland besetzten Stadt Mariupol gehört, aus der die fünfzehnjährige Amina knapp mit ihrem Leben davongekommen ist. Ein roter Spielzeugdrache aus Polen, wohin die Familie der mittlerweile elfjährigen Arina nach Beginn der Invasion geflüchtet war.
„Es ist unsere Pflicht all diese Erfahrungen und Erinnerungen zu dokumentieren“, sagt Oleksandra Dmytrenko, Projektmanagerin und Kuratorin. Die 31-Jährige arbeitet für das „War Childhood Museum“ (auf Deutsch: Museum für Kindheiten im Krieg), das die Ausstellung seit Ende Mai im Kyjiwer Schewtschenko-Museum zeigt. Die Exponate, 29 persönliche Gegenstände ukrainischer Kinder und Jugendlicher, befinden sich hinter gläsernen Vitrinen. Ballettschuhe, ein Ladekabel für das Smartphone, ein Armband. Daneben prangen kurze Texte, in denen die Betroffenen anonymisiert zu Wort kommen und erklären, welche Rolle die Objekte in ihrem kurzen Leben spielen. Es sind Schilderungen von Momenten aus dem Krieg, Momenten aus der Kindheit.
Selbst manche Eltern sind überrascht
„Wenn wir die Kinder und Jugendlichen interviewen, stellen wir keine schwierigen Fragen“, sagt Dmytrenko, die seit drei Jahren Teil des Projekts ist. Das Wichtigste sei, dass eine Retraumatisierung vermieden und professionell gearbeitet werde, mit Empathie, aber der notwendigen Distanz. „Unsere Fragen drehen sich um das alltägliche Leben der Kinder“, sagt sie. „Wir haben klare Fragebögen, in denen wir nie direkt nach dem Krieg fragen.“ Doch oft brächten die Kinder das Thema selbst zur Sprache und überraschten damit manchmal auch die eigenen Eltern, erzählt Dmytrenko. „Ein Kind hat zum Beispiel erzählt, dass es erst drei Wochen nach Beginn der Invasion verstanden hat, dass Krieg herrscht“, erinnert sie sich. „Die Mutter hatte im Chaos der Flucht und vor lauter Stress und Angst vergessen, dem Kind zu erklären, was gerade passiert. Das Kind dachte also, dass die Familie einfach verreist.“
Mehr als zwei Jahre sind seit dem Moment des großen Schocks am 24. Februar 2022 vergangen, als Millionen Menschen aus dem Land in die sicheren Nachbarländer geflohen sind, darunter Dmytrenko selbst. Ein Jahr lang lebte sie mit ihrer Familie in Polen, kam dann in ihre Heimat zurück, die nicht mehr das Land war, das sie verlassen hatte. Wo russische Angriffe mit Raketen und Drohnen seither nicht nur nahe der russischen Grenze und der Front zum Leben dazugehören.
Nur wenige hundert Meter vom Schewtschenko-Museum entfernt befindet sich der ebenfalls nach dem ukrainischen Nationaldichter benannte Park, wo am 10. Oktober 2022 eine russische Rakete auf einem Kinderspielplatz einschlug. Einige Fassaden der umliegenden Häuser zeugen noch immer von der Explosion. Das größte Kinderkrankenhaus des Landes, das am 8. Juli dieses Jahres von einer russischen Rakete getroffen wurde und Dutzende Tote und Verletzte verursachte, befindet sich keine zehn Autominuten entfernt. Seit dem 24. Februar 2022 wurden landesweit laut UNICEF mehr als 2.000 Kinder im Krieg getötet oder verletzt.
Der Anschein von Normalität trügt
Trotzdem zeigt sich die Hauptstadt an vielen Tagen von einer anderen Seite. Ein Hauch von Normalität prägt das Stadtbild. An der Bushaltestelle vor dem Schewtschenko-Museum warten zwei Frauen in bunten Sommerkleidern unter dem Schatten eines Kastanienbaums. Die Restaurants und Cafés sind gut besucht. Doch wer genau hinsieht, bemerkt die vielen Plakate, die zum Eintritt in die Armee aufrufen, oder die Pfeile und Aufschriften auf den Hausmauern, die zeigen, wo sich die Schutzkeller befinden.
„Jeder in der Ukraine ist vom Krieg betroffen – aber eben nicht auf dieselbe Art und Weise“, sagt Veronika Romanyk. Die Zwanzigjährige arbeitet im Museum und führt die Besucher*innen sanft an das Thema der Ausstellung heran, die sie als starke und wichtige Erinnerung an die brutale Realität des Krieges bezeichnet. „Jeder, der sich die Ausstellung ansieht, reagiert anders“, sagt Romanyk. Manchmal erzählen die Besucher*innen ihre eigenen Geschichten, Gedanken und Erfahrungen. „Dann hören wir ihnen zu. Manchmal sprechen die Leute auch gar nicht, sondern weinen einfach nur und haben dabei vielleicht das Gefühl, dass sie nicht allein sind.“ Mehr als 600 Menschen haben sich die Ausstellung bisher angesehen. Manche lassen an der Pinnwand am Eingang handgeschriebene Botschaften und Erinnerungen an ihre eigene Kindheit zurück.
Doch es sind nicht nur die Kampfhandlungen und Explosionen, unter denen auch die jungen Menschen in der Ukraine leiden, sondern die Umstände, unter denen sie aufwachsen und lernen – in unterirdischen Schulen etwa, die in Städten wie Charkiw oder Saporischschja gebaut werden. Dazu kommen die Erfahrungen im persönlichen Umfeld: Laut einer im Jahr 2024 vom International Rescue Committee durchgeführten Studie geben 74 Prozent der Befragten an, dass sie aufgrund des Krieges von einem engen Familienmitglied getrennt wurden. Solche Erfahrungen können nicht nur in jungem Alter tiefe seelische Wunden hinterlassen, weiß Kuratorin Dmytrenko.
Und dennoch: „Es ist uns trotz des großen Leids und der Trauer wichtig, dass wir den Besucher*innen der Ausstellung Hoffnung mitgeben“, sagt Dmytrenko. „Denn gerade Kinder verfügen über diese Gabe, mit großen Schwierigkeiten auf ihre eigene Art umzugehen.“ Der kindliche Blick könne den Erwachsenen helfen, die Dinge anders zu sehen. „Wir kennen Geschichten, bei denen die Eltern in Angst verfallen sind, und ihre Kinder die Ruhe bewahrt haben, sich um die Geschwister gekümmert, oder sogar für Ablenkung gesorgt haben.“
Das Erlebte aufarbeiten
Hunderte persönliche Geschichten hat das War Childhood Museum in den vergangenen Jahren in der Ukraine gesammelt, nur ein Bruchteil davon wird in der Ausstellung gezeigt. „Das Projekt fängt Gefühle und Einstellungen ein, macht aber gleichzeitig viel mehr als das“, sagt Aziz Demirdzhaiev. „Es hilft der Gesellschaft dabei, mit der Vergangenheit und der schwierigen Gegenwart umzugehen.“ Der 33-Jährige arbeitet im Büro des forumZFD in Kyjiw und verantwortet die Partnerschaft mit dem War Childhood Museum. Das Dokumentieren der verschiedenen Erfahrungen spiele nicht nur eine wichtige Rolle beim Umgang mit dem Erlebten, sondern auch bei der Aufarbeitung. „Nach dem 24. Februar 2022 gab es in der Ukraine eine Glorifizierung der Resilienz in der Gesellschaft – auch von Kindern und Jugendlichen, und das, ohne genauer zu hinterfragen, welche Erfahrungen sie eigentlich gemacht haben. Deshalb ist es wichtig, dass wir ihre Perspektive einfangen.“
Zwar wurde die Ausstellung in Kyjiw nur für rund zwei Monate gezeigt. Wichtig sei jedoch, dass die Aufmerksamkeit in den westlichen Partnerländern auf das Thema gelenkt werde. „Wir hoffen, dass die Exponate einen dauerhaften Platz finden, und auch in EU-Ländern gezeigt werden“, sagt Demirdzhaiev. Auch er hat seine Erfahrung mit dem Krieg gemacht, ist selbst auf der von Russland im Jahr 2014 annektierten Krim aufgewachsen. Um das Schicksal der von der Halbinsel vertriebenen und unterdrückten Krimtatar*innen soll sich eines der künftigen Projekte des War Childhood Museums drehen. „Es geht uns darum, diese erlebten Geschichten an ein breites Publikum heranzuführen.“ Denn während sich Krieg und Flucht im Osten und Süden des Landes bereits vor dem 24. Februar 2022 abgespielt haben, sind mittlerweile alle Regionen davon betroffen. Auf eine Art schaffe diese Erfahrung eine Verbindung zwischen den Menschen, sagt Demirdzhaiev. Doch daran, das Verständnis füreinander zu stärken, müsse weiterhin gearbeitet werden. Deshalb organisiert das Museum auch Diskussionen und versucht dadurch gesellschaftliche Diskurse anzuregen.
„Für mich ist es wichtig, dass all unsere Erfahrungen dokumentiert werden, damit sie nicht vergessen werden“, sagt der 21-jährige Andrii Borutja, der ebenfalls für das Museum arbeitet. „Wir dürfen Zeitgeschichte nicht nur aus der Perspektive der politischen Institutionen erzählen oder sie im Kontext globaler Zusammenhänge analysieren.“ Wie abstrakt die Wahrnehmung von Krieg gerade als Kind ist, hat er selbst erfahren. Das Fußballtrikot, das im Museum als eines der 29 Exponate ausgestellt wird, gehörte einst ihm.
Als der Krieg im Donbas im Jahr 2014 begann, war Borutja elf Jahre alt. Mittlerweile hat er einen Bachelor in Geschichte absolviert und beschlossen, selbst Teil des Projekts zu werden. In einem zentral gelegenen Gebäude in Kyjiw, dem sich das Team mit dem forumZFD einige Büroräume teilt, zeigt er einen Schrank, in dem sich dutzende weitere persönliche Gegenstände von Kindern befinden, die gerade erst katalogisiert wurden. Hunde, Bären, Giraffen aus Plüsch. Seine persönliche Vergangenheit öffne ihm Türen, wenn er Kinder und Jugendliche für das Projekt interviewe.
Granaten, Maschinengewehre und ein Fußballspiel
Bis zum 24. Februar 2022 hat Borutja selbst mit seiner Familie in Kramatorsk im Verwaltungsbezirk Donezk gelebt. Mittlerweile befindet sich die Stadt etwa 20 Kilometer von der Front entfernt. Sie liegt unweit von Awdijiwka und Tschassiw Jar, wo heftige Kämpfe stattfinden. Borutja erinnert sich an seine eigene Kindheit zurück, an das Trikot, das für so viel mehr steht als für Fußball. „Wir hatten diese Tradition am letzten Schultag meine Großmutter zu besuchen“, sagt er. Bereits damals, im Jahr 2014, wurde 30 Kilometer von Kramatorsk entfernt gekämpft. Kurzzeitig wurde die Stadt von russischen Kämpfern und ukrainischen Separatisten besetzt, die von Russland unterstützt und finanziert wurden. „Wir hörten Granaten und Maschinengewehre. Aber an diesem Tag Ende Mai fand auch das Finale der Champions League statt. Und Real Madrid war meine Lieblingsmannschaft.“
Doch der Fernseher seiner Großmutter zeigte das Spiel nur ohne Ton. „Als alle ins Bett gingen, blieb ich auf, um das Spiel zu verfolgen.“ In der Verlängerung gewann Real Madrid mit 4:1. „Das ist mir seitdem nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Ein lautloser Fernseher, alle schliefen, und ich habe mich leise gefreut, weil mein Verein gewonnen hatte. Für mich war dieser Moment heilig.“
Lernen von den Erfahrungen aus dem Balkan
In mehr als zwanzig bewaffneten Konflikten weltweit hat das War Childhood Museum seit seiner Gründung im Jahr 2012 solche Kindheitsmomente dokumentiert. Seinen Ursprung hatte die Idee in Sarajewo in Bosnien und Herzegowina, das ukrainische Team nahm 2018 die Arbeit auf. „Ich mag es nicht, wenn wir Kriege vergleichen“, sagt Kuratorin Dmytrenko. Trotzdem sieht sie einige Gemeinsamkeiten, und das große Potential voneinander zu lernen. Viele ihrer Kolleg*innen waren während der Balkankriege Kinder. „Sie betonen immer wieder, wie positiv es ist, dass das Angebot an psychologischer Hilfe in der Ukraine so breit ist“, sagt Dmytrenko. „In den 90er Jahren war das in Bosnien nicht der Fall. Viele Leute haben das Erlebte verdrängt und versucht zu vergessen, und leiden heute noch immer darunter.“
Dmytrenko wünscht sich, dass die traumatischen Erlebnisse enttabuisiert werden. Doch das Problem daran: Die Herausforderungen, vor denen die Menschen in der Ukraine stehen sind immens – und sie nehmen weiter zu. Seit Mai dieses Jahres rumoren in den Straßen wieder die Stromgeneratoren, weil Russland zuletzt große Teile der Energieinfrastruktur zerstört und beschädigt hat. Zwar ist das Gebäude, in dem sich das Büro des forumZFD und War Childhood Museum befindet, von den geplanten Stromabschaltungen bisher nicht betroffen. Doch auch hier steht vorsorglich eine tragbare Powerstation, die früher oder später wohl doch noch zum Einsatz kommen wird. Denn ein Ende des Krieges ist noch immer nicht in Sicht. Stattdessen werden weiterhin Geschichten entstehen, die das War Childhood Museum dokumentiert, damit sie nicht in Vergessenheit geraten.
Daniela Prugger berichtet als freiberufliche Journalistin aus der Ukraine.