Die Hafenstadt Odessa im Süden der Ukraine ist seit jeher bekannt für ihre Schwarzmeerstrände, Nachtclubs und ihren stolzen Charakter, der sie – glaubt man den Einheimischen – von allen anderen Städten unterscheidet. Im Januar 2024 scheint das Leben hier gewohnt friedlich. Straßenmusiker*innen spielen ihre Lieder, Cafés und Restaurants haben geöffnet und ein großer Weihnachtsbaum ist mit Hunderten von Lichtern geschmückt, die traditionelle ukrainische Ornamente bilden.
Doch der Schein trügt. Erst vor wenigen Tagen wurde die Stadt mitten in der Nacht von mehreren Raketen getroffen – wieder einmal. Eine davon schlug in ein Wohnhaus ein. Die Luftschutzsirenen heulen hier fast täglich. Vor einem halben Jahr wurde der Hafen, ein zentraler Transportweg für ukrainisches Getreide und damit eine wichtige Einnahmequelle für das Land, zerstört. Zwei Jahre sind nun schon vergangen, seit Russland begonnen hat, die gesamte Ukraine anzugreifen. Etliche Gebäude wurden seitdem in Odessa getroffen. 34 Zivilist*innen starben und mehr als hundert wurden verletzt.
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„Letzten Sommer hatten wir schwere Schäden durch die Angriffe. Das war der Zeitpunkt, an dem ich das Bedürfnis gespürt habe, an diesem Projekt teilzunehmen“, sagt Valentyna. Sie ist eine der Teilnehmerinnen einer Selbsthilfegruppe, die von dem lokalen Netzwerk „Kidfriendly“ in Odessa angeboten wird. Valentyna trat der Gruppe im September bei. Mit leiser Stimme fährt sie fort: „Ich war immer schüchtern, aber hier lerne ich, mich zu öffnen. Auch wenn ich erst seit kurzem dabei bin, spüre ich bereits die Veränderung und wie die Gruppe mir geholfen hat, selbstbewusster zu sein.“ Sie habe sogar ihren Urlaub so geplant, dass sie kein einziges Treffen verpasse, erzählt sie.
Eine Gesellschaft kämpft ums Überleben
Die Empathie-Selbsthilfegruppe wurde von Kidfriendly und dem forumZFD im August 2022 ins Leben gerufen, nur wenige Monate nach dem breiten russischen Angriff. Auch wenn einige Landesteile stärker vom Krieg betroffen sind als andere, gibt es in der Ukraine doch niemanden, der davon unberührt bleibt. Neben den ganz normalen Alltagssorgen wie Konflikten in der Familie oder im Beruf – das Leben geht ja schließlich weiter – sehen sich die Menschen mit neuen Problemen konfrontiert: Viele haben geliebte Menschen oder ihr Zuhause verloren. Häuser und Wohnungen wurden zerstört, ganze Städte besetzt. Der Krieg reißt Familien auseinander, sowohl über Ländergrenzen hinweg als auch innerhalb der Ukraine.
Nach Angaben des Sozialministeriums sind fünf Millionen Menschen innerhalb des Landes geflohen. Und während viele Männer an der Front kämpfen, bleiben die Frauen oft mit den Kindern zurück und müssen die Familien allein versorgen. Nach zwei kräftezehrenden Jahren ist die Gesellschaft verwundbar. Der ukrainische Gesundheitsminister erklärte, mindestens die Hälfte der Bevölkerung benötige psychologische Hilfe. Manchmal scheint die schiere Masse an Problemen zu groß, um sie zu bewältigen. Konflikte, die bereits vorher bestanden, verschärfen sich, und neue entstehen – sowohl auf individueller Ebene als auch in der Gesellschaft insgesamt.
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So verbreiten sich zum Beispiel Hass und gewalttätige Inhalte immer schneller im Internet und Menschen geraten in Streit darüber, wer am stärksten vom Krieg betroffen ist und am meisten Opfer bringt. „Die Erfahrungen, die die Menschen in diesem Krieg machen, sind sehr unterschiedlich“, sagt Ada Hakobyan vom Ukraine-Team des forumZFD. „Alle haben ihre eigenen Geschichten, ihre eigenen Traumata.“ Dies könne zu Reibereien führen, zum Beispiel zwischen denjenigen, die das Land verlassen haben, und denen, die geblieben sind. Oder auch zwischen jenen, die innerhalb des Landes geflohen sind, und ihren neuen Nachbar*innen.
Die Menschen seien erschöpft von der ständigen Bedrohung, dem täglichen Kampf ums Überleben und der Ungewissheit über die Zukunft, erklärt Hakobyan. In dieser Stresssituation reagierten sie schnell gereizt oder sogar aggressiv. „In emotional überwältigenden Situationen schalten unser Körper und unser Nervensystem automatisch einige wichtige Funktionen ab, zum Beispiel unser Einfühlvermögen. Wir konzentrieren uns dann nur noch auf den Kampf ums Überleben.“
Gewaltfreie Kommunikation kann helfen
Hakobyan hat selbst mehrere Jahre in Odessa gelebt, bevor sie das Land wegen des Krieges verlassen musste. Heute arbeitet sie vom Büro des forumZFD in Köln aus und berät weiterhin die Partnerorganisationen vor Ort. Eine davon ist Kidfriendly, ein Netzwerk von Eltern in Odessa und Umgebung. Entstanden ist es 2011 als Facebook-Gruppe, die seitdem stetig gewachsen ist und heute über 42.000 Mitglieder hat. Mittlerweile gibt es verschiedenste Angebote, sowohl online als auch offline. Hakobyan ist selbst Mutter und fand nach ihrem Umzug nach Odessa bei Kidfriendly Tipps für die Suche nach Kindergärten, Freizeitaktivitäten und anderen Alltagsdingen.
Schon während der Corona-Pandemie reagierten viele Menschen gereizt aufeinander, erinnert sie sich. Deshalb entwickelten das forumZFD und Kidfriendly die Idee, diesen Konflikten durch gewaltfreie Kommunikation entgegenzuwirken. Die ersten Projekte fanden noch während des Lockdowns online statt, aber mit Beginn des großflächigen Angriffs stieg der Bedarf, auch Treffen vor Ort zu organisieren.
Kreative Methoden für alle Sinne
Mittlerweile führt Kidfriendly zwei Projekte für Eltern in Odessa durch. Das erste heißt „ZEN“. Es hilft den Teilnehmenden, ihre Gefühle besser zu verstehen und innerlich Kraft zu schöpfen. „Einige Frauen erzählten mir, wie sie durch die Stadt liefen und dabei das Gefühl hatten, überhaupt nicht mehr zu existieren“, sagt Tanya Drut. „Im Krieg kann man leicht den Boden unter den Füßen verlieren. Für manche Menschen hat sich das Leben völlig verändert. Viele müssen erst einmal wieder zu sich selbst finden.“ Die Projektkoordinatorin von Kidfriendly streicht sich die kurzen dunklen Haare aus dem Gesicht. Ihr herzliches Lächeln strahlt Wärme und Gelassenheit aus. „Wir zeigen unseren Teilnehmenden, wie sie Verbindung zu sich selbst aufnehmen können. Zu den Methoden gehören Yoga, Tanz, Massagen, Schreibübungen, Gesang und Teezeremonien. Dazu laden wir auch externe Gäste ein.“
Das Hauptziel der Übungen sei es, einen sicheren Raum zu schaffen, in dem die Teilnehmenden ihre Emotionen ausdrücken und sich selbst und anderen zuhören können. An diesem Samstagnachmittag haben sich etwa zwanzig Frauen unterschiedlichen Alters in einem gemütlichen Raum versammelt. Sie haben es sich auf Kissen bequem gemacht. Das Licht ist gedämpft, der Boden ist mit Teppichen ausgelegt und das großformatige Wandbild einer ländlichen Idylle vermittelt ein Gefühl von Ruhe und Weite. Im Kamin knistert ein Feuer.
Der Teemeister hat bereits alles vorbereitet, was er braucht: Auf einem niedrigen Tisch vor ihm stehen mehrere Kännchen aus Holz und Metall, Kerzen, getrocknete Teeblätter, Honig, Feigen und andere Zutaten. Nun kann die Zeremonie beginnen. Alle bekommen eine eigene Tasse. Sie ist so klein, dass sie sich leicht in einem Schluck leeren ließe. Aber darum geht es nicht. Teezeremonien sind vielmehr eine spirituelle Übung. Während der Meister die Getränke zubereitet, erzählt er, woher die einzelnen Teesorten kommen, wie man sie am besten zubereitet und was es für innere Harmonie und Klarheit braucht.
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Ein aromatischer Duft erfüllt den Raum. Die Tassen werden herumgereicht und die Frauen trinken Schluck für Schluck. Währenddessen lauschen sie aufmerksam und stellen gelegentlich Fragen. Projektkoordinatorin Tanya Drut erklärt, das Projekt stehe allen Interessierten offen – auch Männern. Bisher hätten aber nur Frauen das Angebot wahrgenommen. Ihrer Meinung nach liegt das daran, dass Frauen offener für Methoden seien, mit denen sie zu sich selbst finden können – Männer wiederum fänden ihre Kraft und Ruhe bei Frauen.
Eine der heutigen Teilnehmerinnen ist Tetiana Mishchenko. Nach der Zeremonie wirkt sie entspannt und ist gerne bereit zu erzählen, was ihr an „ZEN“ gefällt: „Alle Angebote sind sehr einfallsreich. Wir unterstützen uns hiergegenseitig, besonders in diesen schweren Zeiten und im kalten Winter.“ Mishchenko und ihr Sohn im Teenageralter mussten aus ihrer Heimatstadt Cherson flüchten, als diese von russischen Truppen besetzt wurde. Als es ihnen schließlich gelang, nach Odessa zu fliehen, fühlte sie sich wie betäubt, sagt sie: „Während des letzten Monats unter der Besatzung hatten wir kein Licht, keinen Strom und kein Wasser. Als ich endlich wieder in der Wirklichkeit ankam, hat mich dieses Projekt gewärmt wie ein Kaminfeuer. Endlich hatte ich wieder Energie, zu leben.“
Geflüchteten das Ankommen erleichtern
Etwa zwei Drittel der Teilnehmerinnen sind neu in Odessa. Sie sind aus ihren Heimatorten geflohen, weil diese besetzt wurden oder zu nahe an der Front liegen. Aber auch einige Frauen aus Odessa nehmen an dem Projekt teil, was den Geflüchteten das Ankommen erleichtert.
Tetiana Mishchenko sagt, das Projekt habe ihr geholfen, sich in Odessa ein neues Leben aufzubauen. Früher arbeitete sie als Sachverständige beim Gericht in Cherson. Jetzt ist sie Yogalehrerin und gibt Kurse für andere geflüchtete Frauen, damit auch diese wieder Halt bekommen und Selbstvertrauen fassen können. Ihr Klassenzimmer ist so voll, dass es schwierig ist, überhaupt einen freien Platz zu finden. Die Frauen, viele davon 50 Jahre und älter, sind begeistert. Sie erzählen, die Yogastunden würden ihnen helfen, ihre Erlebnisse zu verarbeiten.
Das zweite Projekt, das Kidfriendly mit Unterstützung des forumZFD umsetzt, ist die Empathie-Selbsthilfegruppe. „Sie ist als zweite Stufe gedacht für diejenigen, die mit ZEN ihre innere Stärke gefunden haben“, erklärt Tanya Drut. „Denn man muss zuerst offen für sich selbst sein, bevor man für andere da sein kann.“
Die Gruppe trifft sich einmal wöchentlich. In diesem geschützten Raum sprechen die Frauen über das, was sie gerade bewegt – ohne dafür verurteilt oder gar angefeindet zu werden.
Das Hauptprinzip ist Empathie
Zwei erfahrene Moderatorinnen begleiten die Treffen: Viktoriia Kananovich, selbst berufstätig und Mutter von drei Kindern, und die Psychologin Hanna Rumjanceva. Beide wurden vom Netzwerk „Empathy Ukraine“, einem weiteren vom forumZFD finanzierten Projekt, in gewaltfreier Kommunikation geschult. Dieses Wissen wenden sie nun in der Gruppe an. Sie folgen der Methode von Marshall Rosenberg, deren Hauptprinzip die Empathie ist. Bei jedem Treffen gibt es für die Teilnehmerinnen etwas Neues zu lernen.
Oft entwickelt sich das Gespräch aber auch spontan in eine andere Richtung, je nachdem, welche Themen die Frauen mitbringen. Die Techniken der gewaltfreien Kommunikation funktionieren aber nicht nur im persönlichen Gespräch. Mit Unterstützung des forumZFD bildet Kidfriendly auch die Moderator*innen seiner großen Online-Community aus, um Streit und Hass im Netz entgegenzuwirken. Dank der Schulungen gelingt es dem Team, auch online Räume für konstruktiven Dialog zu schaffen, selbst über kontroverse und sensible Themen.
„Solche Orte, wo Menschen unterschiedliche Meinungen äußern und akzeptieren können, sind in Zeiten des Krieges unerlässlich“, sagt Ada Hakobyan vom forumZFD. „Nur wenn sie sich gehört und wertgeschätzt fühlen, können sie auch anderen Empathie entgegenbringen.“ Die Projektmanagerin ist sich sicher: Nur wenn Menschen – nicht nur in der Ukraine – inneren Frieden finden, können sie aktiv werden und letztlich zu einem friedlichen Zusammenleben in der Gesellschaft beitragen.
Yevheniia Sobolyeva ist freiberufliche Journalistin in Kiew.
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