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Nahost: „Wir leben in zwei Realitäten“

Interview mit dem Künstler und Weltenwandler zwischen Israel und Deutschland: Emmanuel Witzthum

Emmanuel Witzhum im Interview mit dem forumZFD
© forumZFD

Lieber Emmanuel, schön dass du dir heute die Zeit genommen hast für ein Gespräch. Magst du dich kurz vorstellen?

Mein Name ist Emmanuel Witzthum, ich wurde in England geboren, aber aufgewachsen bin ich in Jerusalem. Ich bin Künstler und Künstlerischer Leiter in einem breiten Kulturfeld. Ich bin Komponist und mache elektronische Musik. 15 Jahre lang war ich Bratschist und zurzeit bin ich künstlerischer Leiter des Kulturzentrums Feelbeit in Jerusalem, außerdem Künstlerischer Co-Direktor des „Out of Theo Box“-Festivals in München und bin Teil des „ZEISS Innovation Hub“ in Karlsruhe.

Du bist in Jerusalem aufgewachsen, unser Interview findet jedoch auf Deutsch statt, wie kommt es, dass du so gutes Deutsch sprichst?

Emmanuel lacht. Erstmal, Danke!
Mein Großvater kam ursprünglich aus Berlin, und mein Vater ist germanophil, er spricht fließend deutsch. Die deutsche Kultur und Geschichte waren sehr präsent bei uns Zuhause, obwohl wir miteinander hebräisch sprachen.
Vor 20 Jahren ging ich für drei Jahre nach Berlin als Teil des DAAD-Künstlerprogramms. Es war mir sehr wichtig die Sprache zu lernen, daher bat ich meine Freunde darum nur Deutsch mit mir zu sprechen, schaute deutsches Fernsehen und hörte deutsches Radio. 
Vor zwei Jahren nahm ich an dem Projekt 1700 Jahre jüdische Kultur in Deutschland teil. Ich schrieb für ein Frankfurter Ensemble ein Stück über jüdische Identität in Deutschland.
Die Idee kam mir in Jad Vashem, dort entdeckte ich das Buch eines Mannheimer Kantors. Zwei Kinder hatten es nach der Kristallnacht in einer ausgebrannten Synagoge gefunden und heute liegt es unter tausenden Artefakten in Jerusalem. Dieses Buch inspirierte mich das Zusammenspiel von Religion und Kultur in Identitäten zu erforschen. Es war eine Auseinandersetzung mit meiner eigenen Geschichte, Erinnerung und Sprache.
Mein Großvater war ein Rationalist, der sich als nicht sehr jüdisch empfand. Doch auf Grund seines Jüdischseins raubte man ihm seine deutsche Identität. Es muss sich wie ein Betrug angefühlt haben. Eine Identitätskrise erfasste ihn, denn wer er sein Leben lang glaubte zu sein, wurde ihm nun schlagartig abgesprochen.
Unsere Identität ist selbstbestimmt, aber sie ist auch ein soziales Konstrukt und plötzlich wurde ihm suggeriert, er sei nicht deutsch sondern jüdisch, und das in einem Land, wo die Identität auf der gemeinsamen deutschen Kultur und nicht auf religiöser Zugehörigkeit begründet war. Es war unglaublich für ihn!
Der Schock vieler Jeckes war riesig, denn auf einmal waren sie in Israel und verstanden selbst nicht weshalb. Sie fühlten sich nirgends zugehörig. Sie erinnerten sich an ihre deutsche Kultur und ihre Vergangenheit – ihre eigene Geschichte, die ihnen geraubt und abgesprochen wurde. Das ging mir durch den Kopf, als ich das Stück schrieb.

Wir haben uns in Feelbeit kennengelernt. Magst du beschreiben, was Feelbeit ist?

Feelbeit ist ein Palästinensisch-Israelisches Kulturhaus. Erst im letzten Jahr haben wir unsere eigene künstlerische Identität und unsere Gemeinschaft wirklich gefunden, würde ich sagen.

Was für ein Jahr, um dies zu finden. Wie war es für euch als Palästinensisch-Israelische Gemeinschaft die Schrecken des 7. Oktobers und den folgenden, bis heute andauernden Gaza-Krieg zu durchleben?

Es ist sehr schwierig, denn wir leben in zwei Realitäten. Palästinenser*innen und Israelis leben zwar an demselben Ort, aber wir sehen total andere Dinge. Vor zwei Jahren zum Beispiel, als wir gegen die Justizreformen protestierten, kannte der israelische Teil des Teams kein anderes Thema und für die Palästinenser*innen war es, als ginge es dabei um ein fremdes Land.

Nach dem 7. Oktober erlebten wir in Feelbeit eine Krise. Wir stehen uns als Team sehr nah und wir waren alle unheimlich traurig über das was geschah, wir fragten uns dennoch, ob es nicht total esoterisch war in solchen Zeiten ein Palästinensisch-Israelisches Haus zu betreiben und was haben wir unserem Publikum überhaupt zu sagen? Niemand von uns sah sich im Stande Kunst zu machen. Zwei Monate lang konnte ich selbst keine Kunst machen, in meinem Kopf war allein dieses Trauma. Nach zwei Monaten öffneten wir unsere Türen einen Spalt, für die Menschen, die uns nahestanden. Immer mehr Menschen kamen auf uns zu, weil sie einen Palästinensisch-Israelischen Ort zum Verarbeiten des Traumas suchten.

Dass dieser Wunsch von Palästinenser*innen und Israelis nach allem was geschehen an euch heran getragen wurde ist erstaunlich!

Ja, es ist unfassbar! Wir hatten entschieden, dass wir nichts machen wollten, allein unsere Türen zu öffnen und sehen was passiert. Wir glaubten, dass eine Annäherung nur auf organische Weise passieren kann, es darf den Menschen nicht auferlegt sein, sondern muss aus ihrem Wunsch geboren werden. Wir fühlten uns selbst wie das Publikum, das diese Entwicklung von außen betrachtete und wir wollten schützen was sich hier entwickelte. Das war, wo wir ansetzten in der Entwicklung unserer neuen Identität.
Vor dem 7. Oktober war es immer eine Herausforderung gewesen, palästinensische Künstlerinnen zu finden, die sich bei uns engagieren wollten, ihnen fehlte es an Vertrauen. Doch nach dem 7. Oktober gab es keine Woche, in der nicht ein palästinensischer Künstler bei uns auftrat. Ich kann es selbst nicht glauben.

Und wie erklärst du dir das?

Seit dem 7. Oktober wurden wir für all das „Anderssein“ unseres Gegenübers sensibler, wir hörten auf Dinge anzunehmen und bemühten uns feinfühliger zu erforschen, wer da vor uns steht. Einer der anderen Leiter sagte einmal zu mir: “Assumption is the mother oft all fuck-ups!” Emmanuel lacht.
Die einzige Möglichkeit in diesen Zeiten beieinander zu sein, ist sensibel miteinander umzugehen. Was wir vorher taten, hatte das Potential signifikant zu sein. Was wir jetzt tun, ist signifikant. Es steht nicht länger in Frage, es ist eine Tatsache.
Als ich das erste Mal wieder Musik spielte, war dies bei unserem No Words Event und ich konnte es nur deshalb, weil ich umgeben war von Menschen, mit denen ich gemeinsam traurig sein konnte. Für mich ist Musik heilig. Ihr gebührt Respekt und Respekt bedeutet authentisch zu sein. Diesen Oktober habe ich einen Auftritt in Mannheim, direkt nach Yom Kippur und ich habe furchtbare Angst, dass das Publikum, oder Menschen auf der Straße ihn durch Zurufe stören. Dieses Projekt ist eine zwölfstündige Meditation über das Heilen und ich will, dass Menschen weinen können, wenn ihnen danach ist, ich möchte selbst weinen können, wenn mir danach ist. Ich möchte nicht, dass Politik und Wut in diesen Raum eindringen, ich möchte, dass dies ein heiliger Ort ist. Ich brauche diesen Raum, ich brauche ihn heilig.

Antisemitismus nimmt seit Jahren zu und du hast beschrieben, dass du Angst vor antisemitischen Anfeindungen in Mannheim hast. Seit dem 7. Oktober hat sich der Diskurs bezüglich Antisemitismus weiter verschärft, wie fühlst du dich als jüdischer Künstler mit Hinblick auf die gegenwärtige Situation in Deutschland?

Im Ausland spreche ich in der Öffentlichkeit nie Hebräisch, weil ich Angst habe. Es braucht nur eine Person….
Es gibt berechtigte Wut gegenüber Israel, wenn wir sehen, was in Gaza passiert und auch die israelische Besatzung der Palästinenser*innen ist entsetzlich. Viele furchtbare Dinge passieren in der Welt, doch es gibt diese gezielte Aufmerksamkeit, wenn es um Israel geht, die immer wieder Israels Existenzrecht in Frage stellt, das fasziniert mich. An vielen Orten der Welt akzeptieren Menschen nicht, dass Israel ein Staat der Juden ist, sie sehen es als von den Palästinensern gestohlenes Land oder bestreiten, dass Juden Anspruch auf ein eigenes Land haben. Sie fordern gleichzeitig aber nicht, dass Russland aufhört zu existieren, weil es die Ukraine angreift. Wenn es um Israel geht, dann wird immer auch gleich dessen Existenzrecht in Frage gestellt. Nicht nur muss Israel aufhören, mit den Gräueltaten gegen Palästinenser*innen, sondern es muss auch aufhören zu existieren. Es fasziniert mich, denn wo soll man ein Gespräch beginnen, wenn dies der Ausgangspunkt ist?
Ich glaube der Zusammenhang zwischen Israelkritik, Zionismus und Antisemitismus ist nicht wahrhaftig. Menschen können kritisch auf Israel blicken, gegen die Zionistische Ideologie oder Antisemitisch sein. Es bedeutet nicht, dass wenn du eins davon bist, du auch alle anderen Dinge bist. Auch die israelische Haltung gegenüber diesem Zusammenhang polarisiert den Diskurs. Man kann gegen die Besatzung der Palästinensischen Gebiete sein, gegen den Krieg in Gaza, aber das macht dich nicht automatisch zum Antisemiten. 
Aber wenn ich sehe, was in der Welt geschieht, an Universitäten, auf großen Demonstrationen in London, in Berlin - dort werden antisemitische Symbole getragen, und Menschen werden für ihre Identität verurteilt. Sie sehen wer diese Menschen sind als eine Rechtfertigung dafür sie anzufeinden, allein dafür, dass sie Juden sind. Das macht mir unheimlich Angst und das ist fürchterlich.

Du hast gerade die Vermischung von Israel-Kritik und Antisemitismus angesprochen. In der politischen Debatte in Deutschland wird die Rede auf der Berlinale, als sich Preisträger*innen für eine Feuerpause in Gaza aussprachen als Beispiel für einen antisemitischen Vorfall benannt. Wie siehst du das?

Natürlich ging es dabei nicht um Antisemitismus. Aber es zeigt die Problematik, die derzeit in Deutschland existiert. Deutschland kann gerade kein wahrhaftiger Freund Israels sein, denn es kann Israel nicht auf eine Weise kritisieren, auf die Israel kritisiert werden müsste. Wenn Deutschland die Israelkritik untersagt, oder Kritik an Zionismus nicht zulässt, kann es auch kein wahrer Freund Israels sein. Wenn jegliche Kritik an Israel als antisemitisch abgestraft wird, kannst du nichts mehr sagen. Stattdessen müssen diese beiden Dinge voneinander entkoppelt werden. Dieses Problem betrifft aber nicht allein Deutschland, denn so wie Israel vor der UN auftritt und jede Kritik als antisemitisch kategorisiert hat es Mitschuld daran. 
Der einzige Weg dies zu verändern ist es zu akzeptieren, dass Israelis ein jüdisches Land haben und dass die Kritik an Israel nicht antisemitisch ist. Man kann israelkritisch und für das Land sein.

Was für Abschlussworte! Vielen Dank, dass du dir die Zeit für ein Gespräch genommen hast.

Das Gespräch führte Marlene Hahnenwald. Sie ist Projektmanagerin des forumZFD im Willy-Brandt-Center in Jerusalem.

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