Seit dem 7. Oktober und den beispiellosen Gräueltaten der Hamas tobt die Gewalt. Während diese Zeilen entstehen, sind in Israel noch immer Hunderttausende Menschen aus ihren Heimatorten evakuiert. Noch immer bangen die Angehörigen um die Geiseln. Noch immer sind im Gazastreifen schätzungsweise 1,7 Millionen Menschen auf der Flucht, doch wohin sollen sie sich wenden? Es gibt keinen sicheren Ort in dieser „Hölle auf Erden“, wie es der Direktor des UN-Flüchtlingshilfswerks für Palästina ausdrückte. Über 26.000 Menschen wurden laut dem Hamas-geführten Gesundheitsministerium im Gazastreifen bereits getötet.
Das forumZFD und über 800 humanitäre und zivile Organisationen weltweit fordern einen Waffenstillstand. Doch allen Appellen an die Menschlichkeit zum Trotz geht der Krieg weiter. Wie ist es möglich, in dieser Situation die Hoffnung auf eine friedlichere Zukunft zu bewahren?
Krieg in Nahost
Ihre Spende für den Frieden
Über diese Frage muss Noa Ben-Shalom, Projektmanagerin des forumZFD in Jerusalem, einen Moment nachdenken. „Weißt du, wir haben doch gar keine andere Wahl“, sagt sie schließlich. „Was ist die Alternative, etwa aufgeben? Wir müssen einfach weitermachen.“ Weiter, das bedeutet: Die lokalen Partnerorganisationen nicht im Stich lassen. Die Projekte weiterführen, wo immer möglich. Auf neue Bedarfe reagieren. Die Stimmen für Frieden stärken – auch wenn das alles andere als leicht ist in diesen Tagen.
Das forumZFD arbeitet bereits seit 1999 in der Region. Israel und Palästina gehörten zu den ersten Einsatzorten überhaupt für die Fachkräfte des Zivilen Friedensdienstes. Über die Jahre hat das Team in Jerusalem enge Kontakte zu lokalen Partnerorganisationen und Gruppen auf beiden Seiten aufgebaut, die sich für Dialog, Verständigung, gesellschaftlichen Zusammenhalt und ein Ende des Konflikts einsetzen. In Gaza führt das forumZFD keine Projekte durch, wohl aber im Westjordanland. Dort entfaltet sich zurzeit im Schatten des Krieges und abseits der großen, medialen Aufmerksamkeit ein weiteres Drama.
Im Westjordanland eskaliert die Gewalt
„Die Welt spricht vom Gaza-Krieg, aber eigentlich betrifft der Krieg die gesamten palästinensischen Gebiete“, sagt Jalaa Abuarab, Chefredakteurin der Medienplattform „Dooz“. Die 29-Jährige ruft aus dem Büro in Nablus an. Die geschichtsträchtige Universitätsstadt mit ihren knapp 157.000 Einwohnenden liegt im Norden des Westjordanlands im Gebiet A, in dem die Palästinensische Autonomiebehörde die Hoheit über zivile und sicherheitspolitische Angelegenheiten hat. Allerdings gibt es in der Umgebung der Stadt auch mindestens 30 illegale israelische Siedlungen und Außenposten.
Bereits vor dem 7. Oktober wurden im Westjordanland laut den Vereinten Nationen im vergangenen Jahr mehr Palästinenser*innen getötet als je zuvor seit Beginn der Aufzeichnungen 2005. „Der Krieg findet auch hier statt“, wiederholt Abuarab, die selbst in Nablus lebt, mit Nachdruck. Jeden Tag gebe es Gewalt, etwa Schießereien an Checkpoints, Angriffe radikaler Siedler*innen oder Einsätze des israelischen Militärs.
Abuarab kann alle diese Vorfälle aus dem Kopf aufzählen, denn als Journalistin ist es ihre Arbeit, die Informationen auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Gerade erst habe sie den Hörer aufgelegt, erzählt sie. Am Apparat war ein Augenzeuge, der beobachtet hatte, wie ein Palästinenser bei einer Kontrolle an einem Checkpoint erschossen wurde. Dem israelischen Militär zufolge war es Selbstverteidigung. Der Augenzeuge hingegen berichtet, der Fahrer habe in seiner Panik Gaspedal und Bremse verwechselt. Seine Ehefrau, die auf dem Beifahrersitz saß, wurde ebenfalls getötet.
Die Journalistin atmet tief durch. „Jeden Tag schaue ich mir alle möglichen Videos an, um zu entscheiden, was wir veröffentlichen und was nicht. Ich habe noch nie solche Gewalt gesehen. Jeden Tag wache ich mit rotgeweinten Augen auf und frage mich, warum ich das mache. Aber dann erinnere ich mich daran: Das ist mein Job.“
Sie arbeitet bereits seit zehn Jahren bei Dooz und ist damit fast seit der Gründung 2013 dabei. Der arabische Name lässt sich übersetzen mit „geradeaus“ oder „aufrichtig“. Die Redaktion hat sich selbst einen strikten Verhaltenskodex gegeben und berichtet kritisch und unabhängig. Denn die palästinensische Medienlandschaft ist stark polarisiert und die Berichterstattung hat oft eine parteipolitische Couleur. Dooz hingegen beschreibt sich selbst als „farblos“, erklärt Abuarab, und meint damit, dass sie sich keiner politischen Richtung zuordnen lassen. „Propaganda erkennen wir auf einen Kilometer Entfernung. Und wir recherchieren sehr gründlich. Schnell zu sein ist wichtig, aber korrekt zu sein ist uns wichtiger.“ Mit einem Anflug von Stolz in der Stimme fügt die Chefredakteurin hinzu: „Die Leute sagen über uns: ‚Wenn Dooz es nicht veröffentlicht hat, ist es auch so nicht passiert.‘“
Auf Social Media folgen dem Medium über eine Million Menschen und die Webseite hat Hunderttausende Klicks. Die Berichterstattung konzentriert sich auf Themen, die die Menschen in ihrem Alltag beschäftigen: etwa Infos zu Checkpoints, der Wasserversorgung oder Lokalpolitik. Dies sei die einzige Ebene, auf der die Demokratie im Westjordanland noch funktioniere, so Abuarab. Dooz hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Politik zur Verantwortung zu ziehen und das Vertrauen in demokratische Prozesse wiederherzustellen – und in einer Weise zu berichten, die nicht zur Verschärfung von Konflikten beiträgt.
forumZFD fördert Friedensjournalismus
Das forumZFD kooperiert seit etwa drei Jahren mit Dooz bei der Ausbildung von angehenden Medienschaffenden. In einem Kurs über Friedensjournalismus lernen sie, tieferliegende Konfliktursachen zu erkennen und sensibel darüber zu berichten. „Es hat zum Beispiel einen großen Einfluss auf unsere Leser*innen, welche Worte wir wählen“, sagt Abuarab. „Worte können Hass verbreiten. Wir wollen so berichten, dass wir die Stimmung nicht weiter aufstacheln.“
Stimmen für Frieden
Unterstützen Sie unsere Partner in Israel-Palästina
Eine konstruktive und lösungsorientierte Berichterstattung ist bitter nötig, gerade angesichts der aufgeheizten Stimmung – auf beiden Seiten. Denn auch in Israel kochen die Emotionen über. Als Reaktion auf die Gräueltaten der Hamas wurden nach dem 7. Oktober in der Öffentlichkeit Rufe nach Rache laut. Auch Mitglieder der Rechtsaußen-Regierung unter Benjamin Netanyahu äußerten sich derart. Manch einer forderte gar, Gaza dem Erdboden gleich zu machen.
Stimmen, die sich für ein Ende der Gewalt einsetzen und die den Schmerz auf beiden Seiten anerkennen, haben es da schwer. Partner des forumZFD wie zum Beispiel die jüdisch-palästinensische Bewegung „Standing Together“, die sich öffentlich für einen Waffenstillstand ausspricht, werden angefeindet und eingeschüchtert. Aktivist*innen, die Plakate mit Aufschriften wie „Nein zu Gewalt“ und „Wir stehen das zusammen durch“ aufhängten – auf Hebräisch und Arabisch –, wurden von der Polizei in Gewahrsam genommen.
Andere wurden bei ähnlichen Aktionen von rechten Hooligans zusammengeschlagen. Demonstrationen von Palästinenser*innen und Israelis, die auf die humanitäre Katastrophe in Gaza aufmerksam machen wollten, wurden verboten. Es scheint: Angesichts des eigenen Schmerzes gibt es in der israelischen Gesellschaft kaum Raum, das Leid ‚der Anderen‘ anzuerkennen.
Die Angst voreinander ist riesig
Ein Ort, an dem die scheinbar unmöglichen Begegnungen möglich werden, ist das jüdisch-arabische Kulturzentrum Beit Ha'Gefen, mit dem das forumZFD seit vielen Jahren zusammenarbeitet. Es liegt in Haifa. Die Hafenstadt im Norden Israels zählt zu den sogenannten gemischten Städten. Über zehn Prozent der rund 284.000 Einwohnenden hat arabische Wurzeln. Jüdische und palästinensische Israelis begegnen sich hier tagtäglich: in der Schule, im Supermarkt, an der Bushaltestelle, auf der Arbeit. Das Zusammenleben war schon immer vielschichtig, doch seit dem 7. Oktober hat sich das gegenseitige Misstrauen vervielfacht.
„Wir leben zusammen in dieser Stadt, aber das bedeutet nicht, dass wir einander kennen“, sagt Hasan Haj. Als palästinensischer Staatsbürger Israels erlebt er die Vorbehalte am eigenen Leib. „Ich höre oft, dass ich nicht aussehe wie ein Araber – ich weiß nicht, ob das als Kompliment gemeint ist oder nicht. Aber wenn ich in letzter Zeit in der Öffentlichkeit Arabisch spreche, zum Beispiel im Fitnessstudio, spüre ich immer eine gewisse Anspannung.“
Ein Raum für Komplexität
Haj moderiert bei Beit Ha'Gefen Workshops zum Beispiel mit Schulklassen, Studierenden oder Belegschaften. Seine Teampartnerin Sarki Golani, selbst jüdische Israelin, leitet die Bildungsabteilung des Kulturzentrums. Sie erklärt: „Selbst für Menschen, die schon lange zusammenarbeiten, ist es zurzeit schwer, Komplexität auszuhalten.“ Viele wünschten sich einfache Antworten und eine Bestätigung, dass es okay sei, der anderen Seite nicht zuzuhören und nur den eigenen Schmerz zu spüren. Beit Ha'Gefen hingegen schaffe einen Raum für Nuancen und vielfältige Perspektiven: „Obwohl unsere Teilnehmenden sich im Alltag begegnen, zum Beispiel in der Schulklasse oder im Uni-Seminar, ist es für viele das erste Mal, dass sie miteinander über die Ereignisse reden. Dadurch wächst Vertrauen und das wird gerade dringend benötigt.“
Seit dem 7. Oktober konnten viele Aktivitäten von Beit Ha'Gefen nicht wie geplant stattfinden. Workshops mussten abgesagt werden und das interreligiöse „Fest der Feste“, normalerweise ein Höhepunkt des Jahres, konnte nur in kleinerem und gedeckterem Rahmen stattfinden. Doch schnell kristallisierten sich neue Bedarfe heraus. Arbeitgeber von gemischten Teams traten an Beit Ha'Gefen heran, um das Vertrauen zwischen ihren Mitarbeitenden wiederherzustellen.
Und so arbeitet das Kulturzentrum nun beispielsweise mit Gruppen von Sozialarbeiter*innen, Angestellten von Kommunen, medizinischem Personal oder Lehrkräften. Gerade Schulen stehen vor großen Herausforderungen: Wie sollen die Lehrkräfte Mathe oder Geschichte unterrichten, wenn vor ihnen Kinder und Jugendliche sitzen, die Angst voreinander haben? Die unterschiedlichen Inhalte, die jüdische und palästinensische Schüler*innen in sozialen Medien zu sehen bekommen, sorgen für zusätzliche Spannungen in den Klassenräumen.
Krieg in Nahost
Stimmen, Hintergründe, Informationen
Durch seine langjährige Erfahrung in der Bildungsarbeit hat Beit Ha'Gefen die Werkzeuge, um genau an solchen Problemen anzusetzen. Aber auch für das Team selbst war und ist es keine leichte Zeit. Der Schock sitzt immer noch tief. Sarki Golani erinnert sich an ein Treffen mit allen Kolleg*innen kurz nach dem 7. Oktober. „Es war sehr schwer, darüber zu sprechen. Wir haben viel gestammelt und viel geschwiegen. Aber wir haben einander auch umarmt.“
„Ich muss zuerst an mir selbst arbeiten“
Die Methoden, die sie mit ihren Gruppen anwenden, hätten auch ihnen selbst geholfen, ergänzt Hasan Haj: „Bevor ich mit anderen arbeite, muss ich zuerst an mir selbst arbeiten. Ich muss ehrlich zu mir selbst sein und mich meinen Ängsten stellen: Bin ich wirklich bereit dafür, zu hören, was die anderen zu sagen haben?“ Häufig arbeiten sie zunächst getrennt mit den jüdischen und palästinensischen Teilnehmenden. Erst wenn sich die Gruppen sicher fühlen, bringen sie sie zusammen.
Haj erinnert sich: „Einmal wurde eine Teilnehmerin nervös, als ich zur Begrüßung meinen Namen nannte. Vor ihr stand dieser fremde arabische Mann, den sie nicht einschätzen konnte.“ Aber während des Workshops habe die Teilnehmerin sich entspannt und am Ende in den Feedback-Bogen geschrieben, dass sie sich wertgeschätzt gefühlt habe. „Ich habe die Hoffnung, dass einige unserer Gruppen nach den Workshops weniger Angst vor ‚den Anderen‘ haben“, sagt Haj. „Ich sage immer: Wir können nicht die große Welt verändern, aber wenn wir uns ineinander hineinversetzen, können wir die Welt unserer Mitmenschen verändern und durch unsere Geschichten bereichern.“
Den ‚Tag danach‘ vorbereiten
Für Noa Ben-Shalom, die als Projektmanagerin des forumZFD für die Zusammenarbeit mit Beit Ha'Gefen zuständig ist, sind es solche Projekte, die den Boden bereiten für die Zeit nach dem Krieg. „Ich denke, unsere Rolle ist es, ‚den Tag danach‘ vorzubereiten. Zurzeit sind alle auf das Hier und Jetzt konzentriert und der Fokus vieler Organisationen liegt auf der humanitären Nothilfe. Aber eines Tages – hoffentlich bald – wird der Krieg enden und Orte wie Beit Ha'Gefen zeigen den Menschen, dass es möglich ist, zusammenzuleben. Für mich sind das Orte der Hoffnung.“
Ein wichtiger Baustein für einen dauerhaften Frieden sei es, der gegenseitigen Entmenschlichung entgegenzuwirken, so die Projektmanagerin. Viele Palästinenser*innen sähen die andere Seite nur noch als Soldaten oder militante Siedler, während jüdische Israelis ihr Gegenüber schnell in die Schublade des Hamas-Terroristen steckten. „Die Leute sehen einander einfach nicht mehr als Menschen. Das ist eine große Herausforderung für uns: Räume zu schaffen, wo sie sich als Individuen begegnen können. Wir müssen einander als Menschen sehen, nicht als Monster. Das ist der erste Schritt, um zusammenleben zu können.“
Einfach wird das jedoch nicht. So viel ist zerstört worden durch die Gewalt der letzten Monate. Für die wenigen Gruppen, die noch grenzüberschreitend in Israel und Palästina aktiv sind oder die Menschen über religiöse und kulturelle Unterschiede hinweg zusammenbringen, macht das die Arbeit schwieriger und gefährlicher, sagt forumZFD-Landesdirektorin G. Monique Van Thiel.
„Wir beobachten, wie sie in ihren jeweiligen Communities geächtet, ja sogar wie Verräter*innen behandelt werden. Ihre Stimmen werden leiser und sie brauchen unsere Unterstützung, damit sie angesichts der zunehmenden Polarisierung noch Gehör finden und ihre Arbeit fortsetzen können. Wir müssen aber auch darüber nachdenken, wie wir weitere Teile der Bevölkerung erreichen. Wir brauchen einen ganzheitlichen Ansatz, denn die Ereignisse der letzten Monate bringen nur noch mehr Gewalt und Extremismus hervor. Für uns steht deshalb fest: Wir müssen die Stimmen für Frieden stärken.“
Eine dieser Stimmen sind die „Combatants for Peace“. Diese Partnerorganisation des forumZFD vereint ehemalige Kämpfer*innen beider Seiten, die die Waffen niedergelegt haben und sich heute gewaltfrei für Verständigung und ein Ende der Besatzung einsetzen. Jedes Jahr veranstalten sie eine große Gedenkfeier, bei der den Opfern beider Seiten gedacht wird – eine Alternative zum offiziellen, staatlichen Gedenktag Jom haZikaron, bei dem in Israel nur die eigenen Toten geehrt werden.
Rund 15.000 Menschen nahmen im vergangenen Jahr vor Ort teil und Tausende verfolgten die Veranstaltung live im Internet. Der gemeinsamen Trauer einen Raum zu geben, ist wichtiger denn je angesichts der vielen Opfer, die die neue Welle der Gewalt bereits gefordert hat. Aber wird die Veranstaltung 2024 stattfinden können? Schon jetzt schlägt den „Combatants for Peace“ Kritik entgegen. Doch sie haben angekündigt, sich nicht entmutigen zu lassen. Vereint in Trauer wollen sie ein Zeichen setzen: für eine gemeinsame Zukunft in Frieden.
Stimmen für Frieden
Unterstützen Sie unsere Partner in Israel-Palästina