An einem Dienstagnachmittag Ende Juni rettet sich Oksana Dovgopolova gerade noch rechtzeitig vor einem Wolkenbruch in ein Café im Zentrum von Odessa. Dovgopolova, elegante Sommerbluse, dezent geschminkt, bestellt einen Cappuccino. Sie spricht die Kellnerin auf Ukrainisch an und erklärt kurz darauf, dass sie diese Sprache seit einigen Jahren bevorzugt. Odessa ist mehrheitlich russischsprachig und viele, sagt Dovgopolova, trauern noch immer einer Vergangenheit nach, in der die Stadt den Beinamen „sowjetisches Marseille“ trug. „Für manche war die Sowjetunion eine Zeit, in der Odessa reich und prachtvoll war und man sich keine Sorgen machen musste, arbeitslos oder obdachlos zu werden“, sagt die Geschichtsprofessorin, die an der Nationalen Universität Odessa lehrt.
Bis heute ist die Stadt am Schwarzen Meer weit über die Grenzen der Ukraine hinaus bekannt für ihr mediterranes Flair. Hier geht es weitaus weniger hektisch zu als in der Hauptstadt Kiew. Selbst die Corona-Krise kann das Urlaubsgefühl nicht ganz aus den Straßen vertreiben: Die Restaurants und Cafés sind gut besucht, an den Straßenrändern klettern junge Menschen aus den Taxis und aus den Musikboxen vor den Geschäften und Lokalen dröhnt Techno.
Doch während sich Ukrainer*innen aus dem ganzen Land in der beliebten Küstenstadt zum Strandurlaub und Feiern treffen, haben sich die Gräben zwischen den Stadtbewohner* innen in den vergangenen Jahren vertieft, erklärt Dovgopolova. „Wir haben heute ein großes Problem in Odessa. Die beiden Gruppen, die manche als prorussisch und proukrainisch bezeichnen, sprechen nicht mehr miteinander.“
Der Krieg im Osten ist bis nach Odessa zu spüren
Die Maidan-Revolution im Winter 2013/2014 und ihre Folgen stellten auch die Region Odessa vor eine Zerreißprobe. Wenige Wochen nach den Protesten auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz annektierte Russland die ukrainische Halbinsel Krim, im Osten des Landes begann ein Krieg zwischen der ukrainischen Armee und von Russland unterstützen separatistischen Gruppen. Bis heute hat der aktuell einzige bewaffnete Konflikt auf europäischem Boden mehr als 13.000 Menschenleben gekostet, so ein Bericht der Menschenrechtskommissarin der Vereinten Nationen. „Als der Krieg ausbrach, gab es Menschen in Odessa, die gehofft haben, dass Russland auch diese Stadt einnimmt“, erinnert sich Dovgopolova. „Als Historikerin schäme ich mich dafür, wie die Leute hier in den vergangenen Jahren mit verschiedenen Geschichtsnarrativen, Falschnachrichten und Propaganda gegeneinander ausgespielt wurden“, erzählt die Anfang 50-Jährige, die sich seither intensiv mit Erinnerungskultur beschäftigt.
Am 2. Mai 2014 geriet die Stadt – mehr als 500 Kilometer von der umkämpften Donbass-Region und der besetzten Krim entfernt – plötzlich selbst international in die Schlagzeilen. In der Innenstadt kam es zu Straßenschlachten zwischen Anhänger*innen und Gegner*innen der Maidan-Bewegung. „Es war schrecklich mitanzusehen“, erinnert sich Dovgopolova. „Es gab zwei politische Lager, die sich gegenseitig gehasst und gestritten haben. Die einen sagten: Ihr bringt Menschen um, weil sie Russisch sprechen. Die anderen: Ihr wollt den Krieg auch in unsere Stadt bringen.“ 42 Anti-Maidan-Protestierende starben an dem Tag, als sie sich im Verlauf der Ausschreitungen ins Gewerkschaftshaus flüchteten und ein Feuer ausbrach. Wer oder was für den Brand verantwortlich war, bleibt ungeklärt, denn der Fall wurde juristisch nie vollständig aufgearbeitet. Vor Ort erinnern heute Kränze und Gedenktafeln an die Tragödie, manche der zerbrochenen Fensterscheiben wurden noch immer nicht ersetzt. „Damals“, sagt Dovgopolova, „haben diese beiden Gruppen noch miteinander gesprochen. Heute gibt es kaum Austausch. Aber die Probleme wurden nicht gelöst und die Ereignisse nicht aufgearbeitet.“
Gemeinsam mit dem forumZFD hat die Historikerin deshalb die Idee für das Projekt „Vergangenheit. Zukunft. Kunst.“ ausgearbeitet und bereits mehrere Diskussionsrunden mit Aktivist*innen, Kunst- und Kulturschaffenden veranstaltet. Ein Versuch, den Dialog zwischen den Menschen in der Stadt wiederherzustellen. „Wir möchten die vergangenen Konflikte und Traumata gemeinsam aufarbeiten, die Probleme aus dem aufgeheizten Kontext herauslösen und dadurch unsere Gemeinsamkeiten hervorheben.“ Die Corona-bedingte Verlagerung der Veranstaltungen ins Internet habe auch eine gute Seite, betont Dovgopolova, denn die Inhalte seien nun mehr Menschen zugänglich. „Vielleicht können nun auch unsere Mitbürger* innen in Nachbarregionen an den Diskussionen teilnehmen.“
Lokale Initiativen bringen Menschen zusammen
Abseits vom Trubel und den Sehenswürdigkeiten, zehn Gehminuten vom historischen Zentrum entfernt, setzt sich auch Dmytro Kovbasyuk dafür ein, dass seine Landsleute wieder miteinander ins Gespräch kommen. Kovbasyuk ist Aktivist und Initiator der Bewegung „Gute Nachbarschaft“. Vor einem alten, zweistöckigen Gebäude mit gelber Fassade und Stuck sammelt der 38-Jährige im Vorbeigehen mit zwei schnellen Handgriffen Plastikmüll vom Boden auf, bevor er ein eisernes Tor aufschließt und das Herzstück seiner Arbeit präsentiert: den Innenhof.
Orangene Lilien wachsen in einem Blumenbeet, eingerahmt von einer Sitzmauer. Eine frei stehende Tür steht als Dekoration vor einer mit Efeu bewachsenen Hauswand, die vor vier Jahren Opfer ihres zeitlichen Verfalls wurde. Von einer kleinen Freilichtbühne aus überblickt Kovbasyuk den Innenhof und deutet auf die schwarzen Steinplatten auf dem Boden. „Die haben italienische Händler einst nach Odessa gebracht, wahrscheinlich im 19. Jahrhundert.“ Kovbasyuk, dessen Mutter selbst in einer der neun Wohnungen lebt, hat seit dem vergangenen Jahr dafür gesorgt, dass der gemeinsame Hof verschönert wird und zum Verweilen einlädt. Das Ziel: wieder eine Gemeinschaft werden.
Mithilfe des forumZFD organisiert Kovbasyuk Schulungen, damit auch andere Interessierte lernen können, wie „Gute Nachbarschaft“ geht. Bei den regelmäßigen Treffen können die Aktivist*innen sich untereinander vernetzen, methodisch weiterbilden und gemeinsam Ideen für Projekte in ihrer Nachbarschaft entwickeln. Im Sommer 2019 stellten sie beispielsweise ein Kulturfestival in den Innenhöfen von Odessa auf die Beine. Das gemeinsame Engagement für die eigene Nachbarschaft schweißt zusammen, belebt das soziale Miteinander und baut Spannungen und Konflikte zwischen den Bewohner*innen ab.
Zehn Autominuten weiter wird Dmytro Kovbasyuk freundlich von drei Frauen begrüßt, die Leiterinnen des Kondominiums, einem stalinistischen Häuserblock mit 200 Wohnungen, der seine rund 500 Bewohner*innen durch einen großen Innenhof verbindet. Weinreben wachsen entlang der Gemäuer, neben dem Klettergerüst für Kinder streckt sich eine Katze. Schon seit Jahren kümmern sich die Frauen um die Wohnungen, versuchen die Infrastruktur im Haus zu verbessern und das Gebäude lebensfroher zu gestalten. In Kovbasyuks Schulungen haben sie unter anderem Projektmanagement- und Fundraising-Methoden gelernt. Ihr Engagement haben die Frauen selbst inmitten der Pandemie fortgesetzt.
Gemeinsam für eine „Gute Nachbarschaft“
„Während der Corona-Krise und den landesweiten Restriktionen haben wir fast jeden Tag im Innenhof verbracht“, erzählt Alyona, eine junge Frau mit herzlichem Lächeln und Dutt. Mit Pflanzen, Muscheln und Skulpturen haben die drei ihren Hof in den vergangenen Wochen verschönert und versucht, barrierefreier zu machen. Eine kleine Rampe ergänzt seit kurzem die marode Treppe, die zur Wäscheleine führt und nun den Alltag für ältere Menschen erleichtern soll. „Projekte wie dieses tragen zu einem guten Nachbarschaftsverhältnis bei“, sagt Kovbasyuk. „Dieser Innenhof ist ein Ort, an dem die Bewohner*innen des Hauses sich kennenlernen.“ Was hier dank der engagierten Nachbarschaftsinitiative wieder gut klappt, passiert laut Kovbasyuk in den meisten Wohnblocks der Stadt nur noch viel zu selten.
Dabei haben Innenhöfe in Odessa schon immer eine große Rolle als sozialer Treffpunkt gespielt. Sie trugen dazu bei, die Begegnung und das Vertrauen unter den Menschen zu fördern, und galten als wichtiger Ort des interkulturellen Austausches. Denn kaum eine andere Gegend in der Ukraine weist eine vergleichbare ethnische Vielfalt auf: Menschen aus der Ukraine, Russland, Moldau, Polen, Bulgarien, Albanien, Weißrussland und nicht zuletzt die jüdische Gemeinschaft haben die Region um Odessa über Jahrzehnte mitgeprägt. Doch die mittlerweile maroden Wohnhäuser im französischen und italienischen Barockstil, deren Kern die Innenhöfe bilden, werden kaum instandgehalten, manche stürzen sogar ganz in sich zusammen. Statt sie zu erhalten, ziehen große Baufirmen überall in der Stadt neue Wohnkomplexe und Hotels an ihrer Stelle hoch.
Diese lokale Bauentwicklung und die Arbeit der Behörden birgt ein großes Konfliktpotenzial, erklärt Alex Azarov, Projektberater beim forumZFD-Büro in Odessa. „Die Behörden konzentrieren sich eher auf die Entwicklung profitabler Hotelkomplexe. Der Schutz historischer Bauten und der Umwelt wird dabei eher ignoriert. Alte Bäume werden einfach gefällt. Viele Bürger*innen ärgern sich darüber.“
Azarov, 39, sitzt an einem großen Konferenztisch. Es ist der erste Tag seit Monaten, an dem einige Mitarbeitende des siebenköpfigen Teams wieder im Büro arbeiten. Seit dem 11. März wurden in der Ukraine sukzessive Maßnahmen eingeführt, die einer schnellen Ausbreitung des Corona-Virus entgegenwirken sollten. Die Reisefreiheit wurde eingeschränkt und wer konnte, verlagerte die Büroarbeit nach Hause. Die Auswirkungen der Restriktionen auf die Wirtschaft sind enorm. Mehr als zwei Millionen Menschen haben seither ihren Job verloren, zahlreiche Unternehmen sind pleite gegangen.
Unterstützung in der Corona-Krise
„Viele Menschen in meinem Umfeld waren großem Stress ausgesetzt und hatten Angst davor, ihren Job zu verlieren. Und sie machten sich Sorgen um ihre Gesundheit. Da haben sich viele Emotionen aufgebaut und dann in den sozialen Netzwerken entladen“, erzählt Azarov, der sich in seiner Tätigkeit beim forumZFD viel mit dem Konzept der „gewaltfreien Kommunikation“ beschäftigt. Kurzerhand gründete er ein Unterstützungs-Netzwerk im Internet. Betroffene können sich online registrieren und in drei individuellen Videokonferenzen über ihre Gefühle, Ängste und Gedanken sprechen. Hierfür stehen 19 vom forumZFD eigens geschulte Gesprächspartner*innen bereit.
Draußen ist der Himmel über Odessa wieder strahlend blau. Menschengruppen flanieren in den Einkaufsstraßen, tragen Flipflops und essen Eis. Von Angst, Konflikten und Sorgen ist trotz wieder ansteigender Covid-19-Infektionen in der Ukraine und besonders in der Region Odessa auf den ersten Blick wenig zu spüren. Der Tourismus läuft allmählich wieder an und gibt den Puls der Stadt vor. Unter der Oberfläche verbergen sich jedoch weiterhin die traumatischen Zerwürfnisse der vergangenen Jahre. Zusammen mit engagierten Aktivist*innen aus der Stadt setzt sich das forumZFD dafür ein, dass die Menschen in Odessa wieder zu einer Gemeinschaft zusammenwachsen.
Daniela Prugger berichtet als freiberufliche Journalistin aus der Ukraine.
Das forumZFD in der Ukraine
Im Jahr 2017 hat das forumZFD die Arbeit in der Ukraine aufgenommen. Die zehn Mitarbeitenden sind in Kiew und Odessa tätig. Ziel ist es, zivile Organisationen und lokale Friedensaktivist*innen darin zu unterstützen, bestehende Konflikte gewaltfrei zu bearbeiten. Die Projekte reichen von Bildungsarbeit über lokale Konfliktanalyse bis hin zu Vergangenheitsbewältigung und Kunstprojekten für soziale Veränderungen.
Mehr erfahren Sie unter: www.forumZFD.de/ukraine