Der 7. Oktober 2023 war ein entsetzlicher Tag. Wir wurden von Luftalarm-Sirenen geweckt während hunderte Raketen auf israelische Städte niederprasselten. Dann erfuhren wir von dem beispiellosen Angriff militanter Palästinenser aus Gaza auf israelische Städte entlang der Grenze zum Gazastreifen.
Die Nachrichten strömten herein; von mittlerweile 1.200 getöteten und mehr als 2.700 verletzten Israelis. Auch von Entführungen nach Gaza wurde berichtet. In der Zwischenzeit hatte Israel bereits seine eigene Offensive auf den blockierten Gazastreifen begonnen. Truppen entlang der Grenze wurden mobilisiert und Luftangriffe töteten und verwundeten viele hunderte Palästinenser*innen. Das absolute Grauen der Menschen, die ansehen müssen, wie bewaffnete Militante in ihren Straßen und Häusern sind, ist unvorstellbar. Ebenso der Anblick von Kampfjets und herannahenden Panzern. Angriffe auf Zivilist*innen sind Kriegsverbrechen. Mein Herz ist bei den Opfern und ihren Familien.
Krieg in Nahost
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Im Gegensatz zu den Aussagen vieler Israelis und der Tatsache, dass die israelische Armee von dieser Invasion eindeutig völlig überrumpelt wurde, handelt es sich nicht um einen „einseitigen“ oder „grundlosen“ Angriff. Der Horror, den die Menschen in Israel, inklusive mir selbst, gerade fühlen, ist ein Bruchteil dessen, was Palästinenser*innen täglich seit Jahrzehnten unter dem israelischen Militärregime im Westjordanland und der Belagerung und wiederholten Übergriffen im Gazastreifen ertragen. Was wir heute von vielen Israelis hören – den Ruf danach, “Gaza dem Erdboden gleich zu machen“; dass „dies Wilde sind, keine Menschen, mit denen man verhandeln kann“; dass „es keinen Raum gibt, um mit diesen Leuten zu reden“ – sind exakt die gleichen Worte, die ich unzählige Male von Palästinenser*innen aus den besetzten Gebieten über Israelis gehört habe.
Für alles, was gerade passiert, gibt es einen Grund
Der Angriff am Morgen des siebten Oktobers hat auch aktuellere Hintergründe. Einer davon ist das sich abzeichnende Normalisierungs-Abkommen zwischen Saudi Arabien und Israel. Seit Jahren verfolgt Benyamin Netanyahu die Strategie, dass Frieden erreicht werden könne, ohne mit den Palästinenser*innen zu reden oder irgendwelche Zugeständnisse zu machen. Das Abraham-Abkommen, das 2020 zwischen Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten sowie Israel und Bahrein geschlossen wurde, hat den Palästinenser*innen eines der letzten Stückchen Verhandlungsmasse und Unterstützungsbasis entzogen: die Solidarität arabischer Regierungen, obwohl diese Solidarität seit längerem schon fragwürdig war. Die hohe Wahrscheinlichkeit, mit Saudi Arabien den vielleicht wichtigsten dieser arabischen Staaten nun auch noch zu verlieren, könnte dazu beigetragen haben, die Hamas in die Ecke zu drängen.
Seit Wochen gab es Warnungen, dass die jüngsten Eskalationen im besetzten Westjordanland auf einen gefährlichen Weg führen. Im Laufe des letzten Jahres wurden so viele Palästinenser*innen und Israelis getötet wie in keinem anderen Jahr seit der Zweiten Intifada in den frühen 2000er Jahren. Die israelische Armee führt regelmäßig Razzien in palästinensischen Städten und Geflüchtetenlagern durch. Die Rechtsaußen-Regierung lässt Siedler*innen komplett freie Hand, neue illegale Außenposten zu errichten und Pogrome in palästinensischen Städten und Dörfern anzuzetteln. Soldat*innen begleiten die Siedler*innen und töten oder verstümmeln Palästinenser*innen, die versuchen ihre Häuser zu verteidigen. Jüdische Extremist*innen nutzen hohe Feiertage, um den Status quo rund um den Tempelberg bzw. die Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem anzufechten, unterstützt von Politiker*innen, die ihre Ideologie teilen.
Gleichzeitig zerstört die andauernde Belagerung des Gazastreifens kontinuierlich das Leben von mehr als zwei Millionen Menschen. Viele von ihnen leben in extremer Armut, mit geringem Zugang zu sauberem Wasser und nur vier Stunden Elektrizität pro Tag. Diese Belagerung hat kein offizielles Endspiel. Sogar ein Bericht der israelischen Staatsfinanzprüfung stellte fest, dass die Regierung weder jemals langfristige Lösungen zur Beendigung der Blockade diskutiert hat, noch ernsthaft Alternativen zu den wiederkehrenden Runden von Krieg und Tod in Betracht gezogen hat. Die Belagerung ist buchstäblich die einzige Option für Gaza, die diese Regierung und deren Vorgängerinnen auf dem Tisch haben.
Eine israelische Regierung folgt auf die nächste, doch das Problem palästinensischer Angriffe aus dem Gazastreifen haben sie alle nur mit Pflastern behandelt: Wenn sie vom Boden kommen, bauen wir eine Mauer; wenn sie durch Tunnel kommen, bauen wir unterirdische Barrieren; wenn sie Raketen schießen, installieren wir Luftabwehr; wenn sie welche von uns töten, töten wir noch mehr von ihnen. Und so geht es weiter und weiter.
Keine Lösung ohne Gerechtigkeit und Gleichberechtigung
All das rechtfertigt nicht das Töten von Zivilist*innen – das ist absolut falsch. Vielmehr soll es uns daran erinnern, dass es für alles, was gerade passiert, einen Grund gibt. Und dass es – wie in allen vorherigen Runden – keine militärische Lösung für Israels Problem mit Gaza gibt, noch für den Widerstand, der eine natürliche Reaktion auf gewalttätige Apartheid ist.
In den letzten Monaten haben hunderttausende Israelis im ganzen Land für „Demokratie und Gleichberechtigung” demonstriert. Viele bekannten sich sogar dazu, den Militärdienst aufgrund der autoritären Richtung dieser Regierung zu verweigern. Viele dieser Demonstrant*innen und Reservist*innen kündigten jetzt an, ihre Proteste zu unterbrechen um im Krieg in Gaza mitzukämpfen. Was sie verstehen müssen ist, dass Palästinenser*innen seit Jahrzehnten für die gleichen Forderungen kämpfen, und das gegenüber einem Staat Israel, der für sie bereits vollständig autoritär ist und schon immer war.
Während ich diese Zeilen schreibe sitze ich zuhause in Tel Aviv. Ich versuche herauszufinden, wie ich meine Familie in einem Haus ohne Schutzraum oder Bunker beschützen kann. Mit wachsender Panik verfolge ich die Berichte und Gerüchte über schreckliche Dinge aus den israelischen Städten nahe Gaza, die attackiert werden. Ich sehe wie Menschen, darunter auch Freund*innen von mir, in den Sozialen Medien danach rufen, Gaza heftiger anzugreifen als jemals zuvor. Einige Israelis sagen, jetzt sei die Zeit gekommen, Gaza vollständig auszulöschen – im Grunde eine Aufforderung zum Genozid. Zwischen all den Explosionen, dem Greuel und Blutvergießen scheint es für sie schier wahnsinnig, über friedliche Lösungen zu sprechen.
Und dennoch – mir ist bewusst, dass alles, was ich gerade fühle und alle Israelis auch fühlen müssen, die Lebensrealität von Millionen von Palästinenser*innen seit viel zu langer Zeit ist. Die einzige Lösung, wie es sie schon immer war, ist eine Ende der Apartheid, der Besatzung, der Belagerung, und eine Zukunft, die auf Gerechtigkeit und Gleichberechtigung für alle von uns basiert. Nicht trotz des Horrors müssen wir unseren Kurs ändern – sondern genau wegen ihm.
Haggai Matar ist ein preisgekrönter israelischer Journalist und politischer Aktivist. Er ist Geschäftsführer des +972 Magazine.
Aus dem Englischen übersetzt von Kristin Mehler. Der Artikel im Original wurde zuerst veröffentlicht am 7. Oktober im +972 Magazine unter https://www.972mag.com/gaza-attack-context-israelis/
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