In dem Album „Better than Berlin“ beschreiben der Pianist Faraj Suleiman und der Schriftsteller Majd Kayyal das bittersüße Gefühl, Haifa zu verlassen. Das Lied „Questions on my Mind“ ist bei arabischen Jugendlichen in vielen Ländern beliebt – seien es Palästinenser*innen in Jordanien oder die syrische Diaspora weltweit –, weil es die Sehnsucht nach zu Hause so gut einfängt. Der Erzähler des Liedes ist voller gemischter Gefühle: Berlin sei ja schön und gut, aber der Nachbarschaftsklatsch zu Hause sei nun einmal interessanter. Gleichzeitig drückt er seinen Unmut über die dortige Situation aus, wenn er an eine Freundin vor Ort gerichtet fragt:
„Schikaniert die Polizei immer noch jede Nacht die arabischen Jugendlichen? (...) Sind wir immer noch von Wut zerfressen? (...) Machen sie euch immer noch verrückt mit ihrem Gerede über Politik?“
Asaf Ron kennt solche negativen Assoziationen mit Haifa nur zu gut. Er ist der Direktor von „Beit Ha'Gefen“, einem jüdisch-arabischen Kulturzentrum, mit dem das forumZFD seit langem zusammenarbeitet. Er sagt: „Meine jüdischen Mitmenschen erzählen mir, wie überrascht sie seien, dass die Palästinenser*innen hier so wütend sind. Sie sagen, Haifa sei doch eine liberale Stadt, warum sollte jemand wütend sein? Aber ich als Jude antworte: ‚Warum sind Sie so überrascht? Wo können die Menschen ihre Meinung äußern, wenn nicht in einer liberalen Stadt? Hier in Haifa haben die Palästinenser*innen zumindest einen gewissen Freiraum, um ihre Meinung zu äußern. Deshalb hören wir mehr von ihrer Wut. Natürlich sollte das nicht in Gewalt ausarten, aber das tut es meistens auch nicht.“
Eine Stadt mit einem komplexen sozialen Gefüge
In Israel ist Haifa bekannt als die „Stadt der Koexistenz“. Der malerische Ort am Mittelmeer zählt rund 284.000 Einwohnende. Die überwiegende Mehrheit sind jüdische Israelis. Es leben aber auch rund 33.000 Palästinenser* innen in Haifa. Mit diesem arabischen Bevölkerungsanteil von mehr als zehn Prozent zählt Haifa zu den sogenannten gemischten Städten.
Mit der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 wurden auch aus Haifa etwa 65.000 palästinensische Menschen vertrieben. Im ganzen Land verloren Hunderttausende ihr Zuhause. Die Palästinenser*innen gedenken dieser Tragödie als „Nakba“, was auf Arabisch Katastrophe bedeutet, während jüdische Israelis von ihrer „Unabhängigkeit“ sprechen. Den meisten Palästinenser*innen wurde später die Rückkehr verwehrt, so dass sich die Bevölkerungsstruktur in Orten wie Haifa stark veränderte. Vor 1948 war Haifa ein Ort des Handels und der Vielfalt, eine moderne Stadt, die von einheimischen Araber*innen und neu zugewanderten Jüd*innen gemeinsam aufgebaut wurde. Heute ist die arabische Bevölkerung in der Minderheit. Etwa die Hälfte ist christlich, die andere Hälfte muslimisch. Viele palästinensische Menschen haben angesehene Positionen inne und arbeiten im ärztlichen Dienst, im Finanzwesen oder als Künstler*innen. Und auch wenn nicht wenige arabische Familien in Armut leben, so ist die Armutsquote insgesamt doch niedriger als im Landesdurchschnitt.
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Unter der vermeintlich stabilen Oberfläche verbergen sich jedoch komplexe Probleme. Diese anzugehen, hat sich das Kulturzentrum Beit Ha'Gefen auf die Fahnen geschrieben. Das Zentrum wurde 1963 gegründet, um den Dialog in der Stadt zu fördern und Brücken zwischen den Bevölkerungsgruppen zu bauen. Ein Beispiel ist das „Museum ohne Mauern“ in Wadi Nisnas: In dem arabischen Viertel hat Beit Ha'Gefen Straßenkunst angebracht, die zum Nachdenken einlädt. Das Zentrum verfügt auch über eine arabischsprachige Bibliothek und fördert lokale Autor*innen von Kinderbüchern. Sogar ein Theater gehört dazu: Das „Al Karama“ zeigt ein Repertoire in arabischer Sprache.
Mit dieser Arbeit war das Zentrum schon immer Zielscheibe von Kritik und Anfeindungen. In jüngster Zeit haben diese jedoch eine neue Dimension erreicht. 2022 störten Dutzende rechtsgerichtete Aktivist* innen eine Veranstaltung über palästinensische Kultur. „Das Geschrei und die Schikanen ... das war bei weitem nicht das erste Mal. Aber die Lautstärke war noch nie so hoch“, berichtet Asaf Ron.
Die Lage in Israel ist derzeit mehr als angespannt. Das Land erlebt eine massive Protestwelle gegen die Regierung von Benjamin Netanjahu und seinen rechtsextremen Koalitionspartnern. Aktivist*innen und Minderheiten wappnen sich gegen mögliche Einschränkungen demokratischer Grundrechte, wie etwa der Unabhängigkeit der Justiz oder der Meinungsfreiheit. Es wird befürchtet, dass Initiativen wie Beit Ha'Gefen aus Angst vor Gegenreaktionen bestimmte Themen nicht mehr öffentlich ansprechen können. „Ich will nicht, dass wir anfangen, uns selbst zu zensieren. Aber ich hoffe sehr, dass wir das überstehen können“, sagt Ron. „Es wird schwer. Unser Ziel war es nie, zu provozieren, sondern einen Nutzen für die Gesellschaft zu bringen. Jüdische Bürger*innen beginnen nun mit Selbstzensur – ein Zustand, den Araber*innen bereits seit 70 Jahren erleben.“
Unter die Oberfläche blicken
Asaf Ron leitet Beit Ha'Gefen nun schon seit zehn Jahren. Das Zentrum wird von der Stadtverwaltung mitfinanziert und ist als Bildungsträger anerkannt. Schüler*innen können sich die Teilnahme an den außerschulischen Lernangeboten für ihren Abschluss anrechnen lassen. Das Team von Beit Ha'Gefen arbeitet eng mit Pädagog*innen und Kunstschaffenden zusammen. Wer das Zentrum besucht, dem fallen direkt die vielen Kunstwerke auf, die überall im Haus zu sehen sind. Sarki Golani aus der Bildungsabteilung zeigt auf ein großes Bild mit einem Eisberg im Wasser. Das Werk des palästinensischen Künstlers Ashraf Fawakhry sei ein Hologramm, erklärt sie: Je nachdem, aus welcher Perspektive man das Bild betrachtet, verändert es sich. So wird sichtbar, was zuvor unter der Wasseroberfläche verborgen war. Eine treffende Metapher für die Arbeit von Beit Ha'Gefen, meint Golani: „Wir versuchen, den Wasserspiegel zu senken. So lernt man, Menschen zu schätzen, für die man vorher keine Wertschätzung übrighatte.“
Wie sich ‚der Wasserspiegel senken‘ lässt, zeigt das Projekt „Der dritte Raum“, welches das forumZFD unterstützt. Der Titel ist hierbei wörtlich zu nehmen: Gemeint ist die erste Etage eines Gebäudes, das zum Kulturzentrum gehört. Die Treppe hinauf geht es in den ersten Stock. An der Wand ist ein Video zu sehen, das die Frage stellt: „Was passiert, wenn man das Innere nach außen kehrt?“ Als Nächstes betritt man die Gästelounge, die ganz in der Tradition orientalischer Gastfreundschaft gestaltet ist. In den angrenzenden Räumen werden verschiedene Kunstund Kulturgegenstände gezeigt. Auch demografische Informationen über Haifa sind auf spielerische Weise aufbereitet. Allein im letzten Jahr kamen über 7.500 Besucher*innen hierher, darunter viele Schulklassen. In Gesprächsrunden mit den Gruppen geht es um Themen wie Kultur und Identität. „Alle Menschen und ihre Geschichten sind willkommen“, betont Sarki Golani.
Die Arbeit ist nicht immer leicht. Golani erinnert sich an einen jungen Teilnehmer aus einer ultraorthodoxen jüdischen Gemeinde, der zunächst distanziert blieb und sich nicht beteiligen wollte. „Es war offensichtlich, dass er sich unwohl fühlte. Als ich die Gruppe durchs Haus führte, fragte ich, ob jemand wisse, was das hier ist.“ Golani zeigt auf einen unscheinbaren kleinen Plastikgegenstand. Menschen anderer Glaubensrichtungen würden ihn wohl leicht übersehen. Es ist ein Tzitzit-Wäscheschutz, der verhindert, dass die Fransen des Gebetsschals in der Wäsche hängen bleiben. „Der Teilnehmer war sehr überrascht, dass wir so etwas hier haben“, erzählt Golani. „Er fühlte sich anerkannt und eingeschlossen. Und dadurch öffnete er sich auch für die Geschichten der anderen.“
„Der Konflikt fühlt sich sehr existenziell an“
Ein weiteres Aushängeschild von Beit Ha'Gefen ist der Jugendclub „Tacheles“. Das jiddische Wort bedeutet so viel wie Klartext – ein treffender Name für das Projekt, das darauf abzielt, jüdische und arabische Jugendliche über die Themen ins Gespräch zu bringen, die ihnen unter den Nägeln brennen. Asaf Ron betont jedoch, dass zuerst eine Grundlage geschaffen werden müsse: „Begegnungen, die nicht professionell vorbereitet werden, schaden eher, als dass sie nützen. Der Konflikt hier fühlt sich sehr existenziell an: Wenn du nicht im Recht bist, steht deine gesamte Existenz in Frage. Du hast also keine Zeit zum Zuhören. Du musst recht haben.Und das bedeutet, dass die anderen unrecht haben.“ Um diese Denkmuster aufzubrechen, brauche es eine sorgfältige und einfühlsame Begleitung aller Begegnungen.
Es werde immer schwieriger, jüdische Kinder für den Jugendclub zu gewinnen, berichtet Asaf Ron. Er und sein Team führen dies auf die politischen Veränderungen im Land zurück, aber nicht nur. „Jüdische Schüler*innen haben im Allgemeinen mehr Möglichkeiten für außerschulische Aktivitäten. Außerdem kommen viele von ihnen aus weiter entfernten Stadtteilen. Das macht es für uns schwieriger, sie hierher zu bekommen“, sagt Shani Goldman, die die Jugendgruppe koordiniert.
Dabei hat Beit Ha'Gefen den Jugendlichen viel zu bieten – bis hin zu internationalen Austauschen. Hierfür sucht das Team stets auch neue Partner. Letztes Jahr organisierte das Zentrum zum Beispiel eine einwöchige Reise für rund 15 Jugendliche nach Ungarn. Vor kurzem folgte dann der Gegenbesuch in Haifa. Das schweißte die Gruppe zusammen – denn plötzlich fanden sich die so unterschiedlichen Jugendlichen gemeinsam in der Rolle der Gastgeber*innen für ihre Altersgenoss*innen aus Ungarn wieder. Begeistert zeigten sie ihnen ihre Stadt und die lokale Kultur.
Besuch bei einem Imam und einer Rabbinerin
Auf dem Programm stand unter anderem ein Besuch in der al-Jarina Moschee. Der Imam, Rashad Abu el Hajj, erklärte den Jugendlichen die Geschichte des Gebäudes aus dem 18. Jahrhundert und die Grundsätze des Islams. Dabei betonte er auch, wie wichtig der Dialog mit anderen Religionsgemeinschaften sei. Wenn beispielsweise das islamische Opferfest auf denselben Tag falle wie Jom Kippur, der höchste jüdische Feiertag, sei es wichtig, dies zu thematisieren. Schließlich sei das Opferfest für muslimische Gläubige ein Tag zum Feiern, während Jom Kippur im Judentum ein Tag der Buße und Enthaltsamkeit sei. Um Konflikte zu vermeiden, hätten die Rabbiner in ihren Gemeinden die Bedeutung des Opferfestes erklärt, erzählte Rashad Abu el Hajj. Und die Imame hätten ihrerseits mit ihren Gemeinden über alternative Routen für den Tag gesprochen. Ein praktisches Beispiel dafür, wie die Bedürfnisse verschiedener Religionsgemeinschaften in Einklang gebracht werden können.
Frieden braucht Sie!
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Ein weiterer Programmpunkt war ein Gespräch mit der Rabbinerin Noa Mazor. „Was gab es vor 30 Jahren noch nicht?“, fragte sie in die Runde. Die Antworten der Jugendlichen ließen sie schmunzeln: Autos? Telefone? Klimaanlagen? „Nun, wir hatten all diese Dinge, aber sie waren anders. Sie haben sich mit der Zeit verändert. Was passiert, wenn sich die Dinge verändern?“, fragte die Rabbinerin weiter. Die Jugendlichen ließen sich nicht lange bitten und diskutierten lebhaft über diese Frage. Schließlich kamen sie zu dem Schluss: Wenn sich etwas ändert, können die Menschen sich anpassen, wehren oder damit auseinandersetzen.
Der Schlüssel zum Erfolg
Nach diesen Denkanstößen war am Abend schließlich Zeit zum Entspannen. Der Besuch der ungarischen Gäste fiel zufällig auf Purim, einen jüdischen Feiertag, an dem sich die Menschen gerne verkleiden. Der perfekte Zeitpunkt für eine Purim- Party mit Snacks, Musik und einem Kostümwettbewerb. Hierbei wurde besonders deutlich, wie viel die Jugendlichen gemeinsam hatten, trotz ihrer vielfältigen Hintergründe: Wie Teenager auf der ganzen Welt zerbrachen sie sich den Kopf über ihr Outfit, ihre Frisur oder darüber, wie sie bei der Party im Mittelpunkt stehen konnten.
Für Asaf Ron ist dieses ungezwungene Miteinander der Schlüssel zum Erfolg: „Mit dem Jugendclub wollen wir erreichen, dass sich die Teilnehmenden kennenlernen. Und wenn dann etwas passiert, sprechen sie darüber. Wir versuchen nicht, sie zu irgendeiner Verständigung zu drängen. Sie müssen zuhören. Sie müssen verstehen, wer die anderen sind und was sie bewegt. Sie müssen die Standpunkte, den Schmerz und die Ängste jedes Einzelnen verstehen. Das ist es, was die Welt verändert. Nicht, dass sie sich morgen über die Grenze einig sind.“