Professor Dovgopolova, Sie halten sich zurzeit in Odessa auf. Heute früh haben uns neue Berichte über russische Raketenangriffe auf die Stadt in der vergangenen Nacht erreicht. Deshalb ist unsere erste Frage natürlich: Wie geht es Ihnen und sind Sie an einem sicheren Ort?
Im Moment ist kein Ort in der Ukraine wirklich sicher, aber in Odessa ist es vergleichsweise ruhig. Unsere Armee hat den Vormarsch der russischen Truppen in der benachbarten Stadt Mykolaiv gestoppt. Allerdings droht uns Gefahr vom Meer aus und es gibt jeden Tag Raketenangriffe. Einige Geschosse werden von unserer Luftabwehr zerstört, andere treffen ihr Ziel. Aber glücklicherweise haben wir bislang noch keine Todesopfer in unserer Stadt zu beklagen (Anmerkung d. Redaktion: Das Gespräch fand am 8. April statt; Ende April starben bei russischen Raketenangriffen auf Odessa mehrere Menschen).
Was war Ihre erste Reaktion, als die Invasion am 24. Februar begann?
Es war ein Schock. Um fünf Uhr morgens sind wir von den Einschlägen aufgewacht. Es war einfach unfassbar! Natürlich wussten wir Bescheid über die Vorbereitungen und die russischen Truppen an der Grenze. Aber es war dennoch unmöglich zu glauben, dass dies tatsächlich passiert, selbst angesichts der Tatsache, dass wir ja bereits seit 2014 in einer Kriegssituation leben. Unser Verstand hat uns vor dieser Möglichkeit gewarnt, aber unsere Seelen konnten es nicht glauben.
Nach ein paar Tagen, vielleicht zwei Wochen, änderte sich jedoch die Situation. Uns wurde klar, wie stark unsere Verteidigung ist und dass wir uns wohl auf eine lange Auseinandersetzung einstellen müssen. Die Menschen haben sich massenweise für Freiwilligendienste gemeldet. Wir haben eine wunderbare Tradition von freiwilligem Engagement in Odessa. Wer konnte, hat sein Geschäft wieder aufgemacht, die Straßenbahnen fahren, die Cafés haben geöffnet und die Menschen gehen zur Arbeit. Sie versuchen, ein möglichst normales Leben zu leben, und unsere Wirtschaft zu unterstützen. Sogar Blumen werden auf der Straße verkauft!
Viele Menschen waren überrascht, als ich vor Kurzem ein Foto von einem Blumenstrauß auf meiner Fensterbank bei Facebook veröffentlicht habe. Sie haben gefragt: Wie ist das möglich? Aber dies ist Teil unserer Antwort auf den Krieg. Wir können schließlich nicht alle verrückt werden. Wir müssen einen klaren Kopf bewahren, denn in dieser Situation ist die Panik unser größter Feind. Die russischen Kriegsschiffe, die wir vom Ufer aus sehen können, müssten nicht so nah herankommen – ihre Raketen könnten uns auch von der Krim aus erreichen. Sie kommen so nah, um uns in Panik zu versetzen. Natürlich haben wir Angst, wenn wir am Horizont sieben Kriegsschiffe sehen, die auf die Stadt gerichtet sind. Aber wir verstehen, dass wir stark bleiben müssen und nicht in Panik verfallen dürfen.
Ihre Spende für die Friedensarbeit!
Wie unterstützen sich die Menschen in Odessa gegenseitig?
Es gibt ein großes Gefühl der Einheit und Solidarität. Es ist überall zu sehen: Unsere lokalen Restaurants kochen Mahlzeiten für die Territorialverteidigung, die Schauspieler*innen unseres Theaters bereiten neue Stücke vor, die sich mit dem Krieg auseinandersetzen, und Musiker*innen geben improvisierte Konzerte von Balkonen und in den Straßen. Das ist wirklich großartig, denn natürlich wissen wir um all die furchtbaren Dinge, die in Mariupol, Butscha und in anderen Städten der Ukraine geschehen, und wir stehen permanent unter einer enormen Anspannung. Deshalb ist es sehr wichtig, dass wir einander unterstützen.
In der Vergangenheit gab es in Odessa Spannungen zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen, insbesondere seit Ausbruch des Krieges im Jahr 2014. Mit dem Projekt „Vergangenheit / Zukunft / Kunst“, welches das forumZFD unterstützt, haben Sie und Ihr Team daran gearbeitet, die Spaltungen in der Gesellschaft zu überwinden und Räume für Dialog über traumatische Erlebnisse zu schaffen, wie zum Beispiel die gewaltsamen Zusammenstöße zwischen Demonstrant*innen im Mai 2014, bei denen etliche Menschen starben. Wie geeint sind die Menschen in Odessa heute?
Die Situation hat sich dramatisch verändert. Unser Projekt hat die Probleme adressiert, die wir in der Ukraine gesehen haben. Wir haben versucht, eine gemeinschaftliche Erinnerungskultur zu entwickeln, die die vielfältigen Erfahrungen und Identitäten verschiedener Regionen beinhaltet und als wertvolle Ressource darstellt. Nun sind alle diese Probleme in den Hintergrund gerückt und die ukrainische Gesellschaft ist vereint im Widerstand gegen diese Aggression. Menschen aus unterschiedlichen Regionen treffen sich, da Millionen aus ihrer Heimat fliehen mussten. Daher sind die Fragen der Vergangenheit gerade nicht mehr aktuell.
Aber wir stellen uns den neuen Herausforderungen: Der Name unseres Projekts lautet „Vergangenheit / Zukunft / Kunst“. Für uns steht jetzt der Aspekt der Zukunft im Vordergrund. Diese kann ein Instrument der Resilienz sein und uns Macht geben, dem Angriff zu widerstehen. Macht zu haben bedeutet, eine Vorstellung von der Zukunft zu haben. Die Ukraine braucht jetzt nicht nur militärische und humanitäre Hilfe, sondern wir müssen auch innerhalb unserer Gesellschaft daran arbeiten, diese Kraftquellen zu finden.
Machen Sie sich Sorgen, dass nach dem Ende des Krieges die Konflikte innerhalb der ukrainischen Gesellschaft wieder ausbrechen könnten?
Sicherlich ist das derzeitige Ausmaß an Solidarität durch die Kriegssituation begünstigt. Danach werden einige Probleme zurückkehren. Aber durch die neuen Erfahrungen, die wir nun machen, gewinnen wir zusätzliche Argumente für die öffentliche Diskussion. Einige Menschen in der Ukraine hatten Ängste mit Blick auf die russischsprachigen Städte. Sie waren überzeugt, dass diese Orte ‚auf Putin warten‘ würden.
Diese Argumente wurden von politischen Führungspersonen genutzt, die die Metapher von „zwei Ukrainen“ verbreitet haben: Ost und West. Sie haben behauptet, die Ost-Ukraine sei „pro-russisch“ und die Westukraine sei „die Ukraine“. Nun können wir zeigen, dass sie falsch lagen. Sehen Sie sich Charkiv an, sehen Sie sich Cherson an, sehen Sie sich all die russischsprachigen Städte an und Sie werden sehen: Das ist die Ukraine. Sogar in den besetzten Städten protestieren die Menschen mit ukrainischen Flaggen – direkt vor dem russischen Militär.
Diese Erfahrung ist so mächtig, dass sich die Erinnerung daran unmöglich innerhalb weniger Wochen nach dem Krieg wieder auflösen wird. Ich hoffe sehr, dass wir das Ende dieses Krieges erleben werden. Und dann werden wir mit der Zivilgesellschaft daran arbeiten, eine neue Stufe des Zusammenhalts zu erreichen. In Abgrenzung gegenüber dem autoritären Regime in Russland ist die wahrhaftige Zukunftsperspektive für die Ukraine klar und deutlich zu erkennen: Eine Zukunft, die gebaut ist auf den Menschenrechten, der Würde des Menschen und unserer Entscheidung für Europa. Für mich sind dies die zentralen Vorstellungen, die wir bereits heute sehen können, und auf denen wir nach dem Krieg unsere gemeinsame Erinnerungskultur aufbauen werden.
Im Krieg wird nicht nur mit Waffen gekämpft, sondern auch mit Worten. Es werden etliche Falschinformationen über geschichtliche Tatsachen verbreitet. Was ist Ihre Reaktion als Historikerin?
Lange Zeit wurde solche Rhetorik als törichtes Gerede abgetan. Als professionelle Historikerin habe ich überhaupt keine Möglichkeit, solch absurden Behauptungen etwas zu entgegnen. Wenn Putin sagt, die Ukraine sei ein unechter Staat, erfunden von Lenin, dann weiß ich nicht, was ich sagen soll. Meine erste Reaktion ist: Er ist verrückt. Das hat überhaupt keinen Bezug zur Realität. Wir können keine Diskussion über historische Argumente führen, wenn es überhaupt keine Argumente gibt. Deshalb haben sich Historiker*innen lange Zeit überhaupt nicht mit diesen Theorien beschäftigt. Wir sahen unsere Aufgabe darin, wissenschaftlich zu arbeiten.
Für mich persönlich weiß ich heute: Das war mein Problem. Als ich 2014 gesehen habe, wie wirksam diese falschen Argumente waren, um Menschen zu rekrutieren, um sie zu den Waffen greifen zu lassen und dazu zu bringen, sich gegenseitig zu töten, da habe ich mich so sehr geschämt, dass ich den akademischen Elfenbeinturm verlassen habe. Ich habe damit begonnen, Projekte im öffentlichen Raum zu initiieren um Menschen zu informieren und Räume für Dialog zu schaffen. Denn wenn jemand ohne historische Bildung etwas im Fernsehen sieht, dann denkt diese Person vielleicht: „Womöglich ist das wahr.“
Ich habe verstanden, dass all diese Probleme, die ich für akademische Probleme gehalten hatte, gar nicht akademisch sind. Geschichte ist eine mächtige Waffe für Manipulation und von Jahr zu Jahr erhöhte sich das Level der Manipulation durch Russland.
Ein Ziel des Projekts „Vergangenheit / Zukunft / Kunst” war es, ein gemeinsames Verständnis von Geschichte zu entwickeln. Warum ist das so wichtig?
Unser gemeinschaftliches Gedächtnis bildet die Wurzel unserer sozialen Identität. Es spiegelt unsere Werte wieder, zum Beispiel wenn wir erklären wollen, warum diese oder jene historische Persönlichkeit wichtig für uns ist. Natürlich ist die Vergangenheit nicht die Gegenwart, alle diese Ereignisse liegen weit zurück. Aber es ist wichtig, darüber zu sprechen. Unsere Zukunft hängt von diesen Bewertungen ab: Was sind die Dinge, die wir als Gesellschaft schützen oder ablehnen wollen? Unsere Vergangenheit ist das Fundament, auf dem wir unsere Zukunft bauen.
Wie kann die Friedensarbeit in diesen Zeiten des Krieges weitergehen?
Ich halte es für sehr wichtig, sich über die unterschiedlichen Erfahrungen auszutauschen, die die Menschen jetzt machen. Dies wird die Grundlage für gegenseitiges Verständnis bilden. Im Moment ist jeder und jede von uns an einem bestimmten Punkt oder Ort und abgesehen von der persönlichen Ebene haben wir keine Möglichkeit unsere Erlebnisse zu teilen. Nach dem Krieg brauchen wir Methoden und Instrumente um an den Erfahrungen anderer teilhaben zu können – zum Beispiel von Menschen, die Besatzung erlebt haben, die während der Belagerung in Mariupol waren, die in der Verteidigung von Kiew gekämpft haben oder die in den westlichen Teil der Ukraine oder andere Länder geflohen sind.
Alle diese Erfahrungen sind wichtig und müssen nach dem Krieg geteilt werden. Wir werden sie sammeln und anhand dessen zeigen, wie wir in dieser Situation stark geblieben sind. Ich bin sicher, dass dies zur Versöhnung beitragen kann. Es können ganz unterschiedliche Aktivitäten sein: Publikationen, Projekte mit Zeitzeug*innen, Räume für Dialog, Theateraufführungen… Alle diese Methoden könnten angewandt werden.
Es liegt also viel Arbeit vor Ihnen.
Ja, auf jeden Fall. Und wir haben bereits begonnen: Zum Beispiel veröffentlichen wir mit unserem Projektteam von „Vergangenheit / Zukunft / Kunst“ zusammen mit Expert*innen Informationen über Themen wie den Schutz von Kulturschätzen oder über den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Dies ist wichtig, denn wenn wir verstehen, dass diese Verbrechen bestraft werden können, hilft dieses Wissen uns dabei, den Schmerz zu verarbeiten. Internationales Recht ist ein sehr komplizierter Bereich und daher sehen wir den Bedarf, einige der Kernbotschaften in eine Sprache zu ‚übersetzen‘, die die Menschen tatsächlich verstehen können.
Wir informieren beispielsweise über internationale Straftribunale zu Völkermord und Kriegsverbrechen und wir haben begonnen, Materialien zur juristischen Verfolgung von Menschen, die Propaganda verbreiten, zu veröffentlichen. Als Putin von der „Endlösung der Ukrainefrage“ gesprochen hat, haben wir die Bedeutung dieser Rhetorik erläutert und historische Parallelen aufgezeigt. Wir haben auch Materialien über historische Fälle wie die Nürnberger Prozesse oder den Völkermord in Ruanda zusammengestellt. Es ist wichtig, den Menschen die Wege aufzuzeigen, auf denen Gerechtigkeit erreicht werden kann. Wir haben uns entschieden, die Materialien kurz zu halten und dafür regelmäßig etwas zu veröffentlichen. Die Reaktionen, die wir bekommen, zeigen uns, dass die Menschen diese Informationen wirklich brauchen – sie brauchen jeden Tag etwas, dass ihren Verstand beschäftigt.
Welche Botschaft haben Sie für unsere Leser*innen in Deutschland?
Uns in der Ukraine ist es sehr wichtig, anderen Ländern zu zeigen, dass wir ein freies und unabhängiges Land wollen. Und wir wollen sichtbar sein. Um nur ein Beispiel zu geben: Wissenschaftliche Einrichtungen in Europa haben den Bereich der Ukraine-Studien lange ignoriert. Oft bieten sie Russland-Studien an und dann noch etwas Vages zu Osteuropa, als ob das irgendwie in der russischen Einflusssphäre aufgelöst wäre. Es ist wichtig, dieses Bild zu erneuern, denn die Ukraine ist ganz anders als Russland – und das schon seit vielen Jahrhunderten, nicht erst seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Wir haben unsere eigene, wunderbare Kultur. Ich hoffe, dass die Ukraine nach dem Krieg ihren Platz auf der Landkarte der europäischen Kultur und Politik finden wird.
Das Interview führte Hannah Sanders (forumZFD) am 8. April 2022.
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Zur Person:
Die Historikerin und Philosophie-Professorin Oksana Dovgopolova lehrt an der Odesa National University. Ihr wissenschaftliches Interesse richtet sich auf Geschichtsphilosophie und Studien zur Erinnerungskultur. Seit 2014 hat sie sich in Odessa zunächst für den gesellschaftlichen Dialog eingesetzt. Später hat sie weitere Projekte im öffentlichen Raum ins Leben gerufen, die einen Beitrag zu Bildung und zur Aussöhnung der ukrainischen Gesellschaft vor dem Hintergrund einer gemeinschaftlichen Erinnerungskultur leisten. Sie hat u.a. mit Museen und Kultureinrichtungen in Odessa, Kiew, Gdańsk und Melitopol zusammengearbeitet.
Unterstützt vom forumZFD haben Oksana Dovgopolova und ihre Kollegin Kateryna Semenyuk die Plattform „Vergangenheit / Zukunft / Kunst“ aufgebaut, die Bildungs- und Forschungsprojekte zur Erinnerungskultur ermöglicht und durch ein umfangreiches Programm die breite Öffentlichkeit in die Vergangenheitsbewältigung einbezieht.