„Der Krieg beginnt zu Hause.“

Ein Interview mit Vika, Künstler*in und Antikriegsaktivist*in aus Russland

Am 1. September wurden die Aktivist*innen des Feministischen Antikriegswiderstands (FAR) aus Russland mit dem Aachener Friedenspreis ausgezeichnet. Im Vorfeld der Preisverleihung konnte das forumZFD mit Aktivist*in Vika sprechen.
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© Aachener Friedenspreis, Gary Evans

Aus Sicherheitsgründen identifizieren wir Vika nicht auf den Bildern zu diesem Interview.

Herzlichen Glückwunsch zum Aachener Friedenspreis! Was bedeutet die Auszeichnung für euch?

Vielen Dank. Die Preisverleihung ist für uns eine weitere, wichtige Gelegenheit, auf die Antikriegsbewegung in Russland aufmerksam zu machen. Wir sind gegen den Krieg in der Ukraine und gegen Gewalt. Wir widmen unseren Preis den Frauen und der LGBTQ+- Bewegung in Russland, die wegen ihrer Antikriegsaktionen, ihrer Identität und ihrer Ansichten verfolgt werden. Wir widmen ihn all jenen, die inhaftiert sind, die Durchsuchungen, Folter und Gewalt ausgesetzt sind. Dies sind nicht nur politisch Engagierte unserer Bewegung. Es gibt Tausende Menschen in und aus Russland, die sich dem russischen Faschismus widersetzen, vom Teenager bis zur Rentner*in. Das Preisgeld werden wir an eine feministische Organisation in der Ukraine sowie an eine russische Initiative zur Unterstützung politischer Gefangener spenden.

Ihr habt den FAR unmittelbar nach Beginn des russischen Angriffskrieges ausgerufen. Innerhalb kurzer Zeit wurdet ihr gegen alle Widerstände zu einer der am schnellsten wachsenden Antikriegskampagnen Russlands. Wie habt ihr das geschafft?

Der Feministische Antikriegswiderstand entstand als Reaktion auf Russlands Invasion in der Ukraine. Heute besteht er aus Dutzenden autonomer Zellen und Gruppen in Russland und im Ausland. Unter uns sind politisch Aktive aus indigenen Gemeinschaften, LGBTQ+-Personen, Menschen mit Behinderungen, Migrant*innen und Geflüchtete sowie Menschen, die verschiedene Formen von Gewalt und Diskriminierung erfahren haben. Wir bauen Netzwerke zur gegenseitigen Unterstützung mit anderen Antikriegsbewegungen und Aktivistengruppen. Wir wollen möglichst alle Menschen vereinen und politisieren, die bereit sind, das Fundament für ein friedliches Russland zu legen – frei von Diktatur, Unterdrückung, Militarismus, Imperialismus und Gewalt.

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Wir wollen richtig verstanden werden: „Gegen den Krieg“ ist in unserem Fall nicht das müßige Warten auf einen abstrakten Frieden, der dann eintritt, wenn einer Seite die Ressourcen ausgehen. „Gegen den Krieg“ ist ein täglicher Widerstand gegen den Aggressor und seine militärischen und imperialen Ambitionen.

Vika, Künstler*in und Antikriegsaktivist*in aus Russland

Wie sieht eine typische Aktion des FAR aus? Und wie reagieren die Menschen darauf?

Die typische Aktion gibt es nicht (Beispiele finden Sie im Infokasten, Anm. d. Red.). Alles, was wir machen, ist an die jeweils aktuelle Lage oder an einen bestimmten Anlass gebunden. Die Menschen reagieren sehr unterschiedlich, wir haben in zwei Jahren fast alles erlebt. Was uns als feministischer Basisbewegung sehr wichtig ist: Unsere Aktionen spiegeln unsere Vision einer friedlichen Zukunft – übergreifend, inklusiv und unter Beteiligung der Schwächsten in der Gesellschaft.

Kannst du etwas über dich erzählen? Wie sieht dein Leben derzeit aus?

Mein Name ist Vika. Ich bin Künstler*in und Aktivist*in. Schon bevor der Krieg gegen das gesamte Staatsgebiet der Ukraine begann, war ich im zivilen Aktivismus tätig. Mittlerweile kann ich nicht mehr nach Hause zurückkehren. Neben meinem täglichen Aktivismus und der Arbeit, die meine Existenz sichert, muss ich mich in einem fremden Land einleben, dessen Sprache ich nicht spreche. Das hat mein Leben völlig verändert.

Ihr werdet regelmäßig massiv bedroht. Wie kümmert ihr euch um eure Sicherheit?

Ich kann diese Frage im Moment nicht beantworten. Tut mir leid.

Was bedeutet es für euch, gegen den Krieg zu sein?

Wir nennen uns „der Feministische Widerstand gegen den Krieg“, sind uns aber bewusst, dass es bei „gegen den Krieg“ nicht um einen privilegierten Pazifismus geht, sondern um die Anerkennung des Rechts der geschädigten Partei auf Selbstverteidigung. Die Ukrainer*innen können nicht „Nein“ zu einem Krieg sagen, der bereits in ihre Heimat gekommen ist. Sie können nicht sagen: „Das ist nicht unser Krieg.“ Sie sind gezwungen, sich selbst, ihr Zuhause und ihre Lieben zu verteidigen – oft unter Einsatz ihres Lebens. Wir wollen richtig verstanden werden: „Gegen den Krieg“ ist in unserem Fall nicht das müßige Warten auf einen abstrakten Frieden, der dann eintritt, wenn einer Seite die Ressourcen ausgehen. „Gegen den Krieg“ ist ein täglicher Widerstand gegen den Aggressor und seine militärischen und imperialen Ambitionen. Ein Widerstand, an dem sich Tausende von Frauen, queeren Menschen, Aktivist*innen und Feminist*innen beteiligen.

© Aachener Friedenspreis, Gary Evans

Auf der Urkunde des Aachener Friedenspreises heißt es: „Frieden ist eine Grundhaltung, die Interessengegensätze auf den verschiedensten Ebenen so austrägt, dass damit dem Ausbruch von gewaltsamen Feindseligkeiten jeglicher Boden entzogen wird. Wir zeichnen Sie aus, weil Sie von unten her Frieden gestiftet haben durch Gerechtigkeitssinn, Menschlichkeit, Hilfsbereitschaft – auch Feinden gegenüber -, durch Gewaltlosigkeit, Zivilcourage, Tatkraft, Sachlichkeit und Herz.“

Im forumZFD sehen wir eine starke Zivilgesellschaft als unverzichtbar für eine friedliche Gesellschaft an. Deshalb begleiten wir lokale zivilgesellschaftliche Gruppen weltweit bei ihrer Arbeit. In Russland konnten weder wir noch andere ZFD-Trägerorganisationen jemals tätig werden. Wie ist es um die russische Zivilgesellschaft bestellt? Welche internationale Unterstützung erhält sie?

Viele Menschenrechtsorganisationen in Russland gelten als ausländische Agenten. Natürlich setzt der russische Staat darauf: unliebsame Organisationen so lange zu stigmatisieren und zu isolieren, bis die Aktivist*innen gezwungen sind, entweder die Organisation zu verlassen oder die Strategie zu ändern. Mehr möchte ich dazu nicht sagen, um mich und andere nicht in Gefahr zu bringen.

Rund 500 Personen verfolgten die Preisverleihung in der Aula Carolina in der Aachener Altstadt. Die Laudatio hielt der Kabarettist Wilfried Schmickler.

Der Feministische Antikriegswiderstand (Feminist Anti-War Resistance, FAR)

Der FAR konstituierte sich bereits am 25. Februar 2022, dem zweiten Tag des Krieges, mit einem Manifest gegen den russischen Überfall auf die Ukraine. Das Manifest wurde über den in Russland populären Messengerdienst Telegram verbreitet. Getragen wird die neue soziale Bewegung vom gemeinsamen Bekenntnis zu Frieden, Empathie, Vielfalt und zu den Menschenrechten. Die Aktivist*innen sehen sich selbst als neue politische Kraft in Opposition zu Krieg, Patriarchat, Autoritarismus und Militarismus. FAR setzt sich zudem für Toleranz und die Pluralisierung von Lebensstilen und gegen sog. „traditionelle Werte“ und die heterosexuelle Norm ein, die Putins Russland mit seinem extrem konservativen Bild von Geschlecht und Familie durch drastische Verbote und Repressionen gegen die LGBTQ+-Community durchsetzt. Im März 2022 stand die FAR an der Spitze der ersten Antikriegsproteste in mehr als 100 Städten. Mittlerweile zählt die Telegram-Gruppe mehr als 41.000 Abonnent*innen und ist damit in Russland die mit Abstand größte Initiative gegen den Krieg. Lange sah die russische Regierung Feminist*innen nicht als Gefahr an.

Erst im Dezember 2022 wurde FAR vom russischen Staat in die Liste der sogenannten „ausländischen Agenten“ aufgenommen. Seitdem werden Aktivist*innen verhaftet, kriminalisiert und entweder in der Psychiatrie oder im Gefängnis eingesperrt. Um dies zu vermeiden, handelt FAR meist anonym. Bekannt sind nur die Namen weniger, im Ausland lebender Aktiver. Die Bewegung legt Wert auf ihre horizontale Struktur und die hierarchiefreie Zusammenarbeit ohne Führungspersonen. Zu den kreativen Protestformen der Frauen gehört es z.B., auf Preisschildern in Supermärkten über die Zahl gefallener Soldat*innen und ziviler Opfer zu informieren. Hierfür drohen einer Aktivistin bis zu 10 Jahre Gefängnis.

Zum Weltfrauentag am 8. März legten Aktivist*innen aus Protest Blumen in den ukrainischen Farben auf die Straßen. Seitdem werden Frauen, die sich mit Blumen im öffentlichen Raumaufhalten, allein für diese Tatsache festgenommen. Neben der Organisation von Protesten gibt FAR die russisch sprachige Online-Zeitung „Zhenskaya Pravda“ (Wahrheit der Frauen) heraus, die mit ihrer Berichterstattung über den russischen Krieg in der Ukraine der staatlichen Propaganda entgegenwirken will. Zudem sensibilisieren die Aktivist*innen die Öffentlichkeit zu den Themen der (sexualisierten) Gewalt gegen Frauen und Kinder, kämpfen für die Menschenrechte politischer Aktivist*innen in Russland und verfassen Petitionen und Briefe. Sie organisieren psychologische und emotionale Unterstützung für Personen, die direkt oder indirekt von der russischen Aggression in der Ukraine betroffen sind. So unterstützen sie beispielsweise in Belarus Ukrainer*innen auf der Flucht. Quelle: Aachener Friedenspreis

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In Deutschland sorgen sich viele Menschen darum, dass russische Menschen für sehr lange Zeit als Feinde angesehen werden könnten. Sie sehen, dass unter anderem Partnerschaften zwischen deutschen und russischen Städten aufgekündigt werden, was die Chancen auf Dialog und Frieden nur noch weiter schmälert. Haben sie recht mit ihren Befürchtungen?

Ich selbst wurde bisher noch nicht angefeindet. Ich weiß aber von anderen, dass sie Aggressionen verschiedenster Art gegen sich erlebt haben. Ich glaube, dass Aggression ein generelles Problem unserer Zeit ist. Lösen können wir es nur, wenn wir gemeinsam entscheiden, einander zuzuhören, und versuchen, mit kühlerem Kopf auf die jeweilige Situation zu blicken.

Wie steht ihr zu der Forderung, dass Menschen, die aus Russland fliehen und/oder sich dem Kriegseinsatz widersetzen, in der EU Asyl gewährt werden sollte?

Ich denke, da kommt es auf den Einzelfall an. Hinter jeder*jedem Geflüchteten steht eine ganz eigene Geschichte. Alle Geflüchteten gleich zu behandeln, ist nicht immer der richtige Weg. Das Recht auf Asyl sollte in einer Gesellschaft, die das menschliche Leben wertschätzt, aber grundsätzlich jedem offen stehen.

Viele Ukrainer*innen, die sich früher im ukrainisch-russischen Dialog engagiert haben, sehen sich angesichts des grauenhaften Krieges dazu aktuell nicht in der Lage. Seid ihr in Kontakt mit Ukrainer*innen?

Ja, ich kommuniziere mit ukrainischen Aktiven und ich habe auch Freund*innen in der Ukraine. Gemeinsam mit ihnen mache ich das Projekt „Kiewer Tagebuch“ zu den Gefühlen und Ängsten, die sie während des Krieges durchleben. Ich versuche, diese wichtige Verbindung unter allen Umständen aufrechtzuerhalten. Eine meiner Freundinnen ist schon kurz nach Beginn des Krieges bei einem Angriff gestorben. Sie kam ursprünglich aus Russland und hatte die letzten Jahre ihres Lebens in Kiew verbracht.

Ihr seid sowohl eine Antikriegs- als auch eine feministische Bewegung. Welchen Beitrag kann der Feminismus für den Frieden leisten?

Wir sagen oft: „Der Krieg beginnt zu Hause“. Häusliche Gewalt in Familien, Gewalt gegen Frauen, Kinder und ältere Menschen – all diese Gewalt wird durch den russischen Staat gefördert und genährt. Und sie hat längst die Häuser verlassen und ist über die Staatsgrenzen hinaus geschwappt. Alle Formen von Gewalt sind miteinander verwoben – und sie alle müssen aufhören. Der Krieg beginnt zu Hause, und er muss zu Hause enden. Feminismus ist daher ein untrennbarer Teil des Widerstands gegen den Krieg, gegen Ausbeutung, Diskriminierung und Gewalt.

Aachener Friedenspreis

Mit dem Aachener Friedenspreis werden seit 1988 Menschen und Gruppen ausgezeichnet, die sich an der Basis für Frieden und Verständigung einsetzen. Der Preis ist meist zweigeteilt. In diesem Jahr wurde neben dem FAR auch der Human Rights Defenders Fund aus Israel & Palästina ausgezeichnet. Der Fonds bietet Menschenrechtsverteidiger*innen Unterstützung, um Angriffe auf ihren Körper, ihre Person und ihre Arbeit abzuwehren. Dazu stellt er Rechtsbeistand und juristische Vertretung für Menschenrechtsverteidiger*innen bereit, die mit verschiedenen Formen juristischer Verfolgung, Verhaftungen und Anklagen aufgrund konstruierter Vorwürfe oder anderen Arten rechtlicher Schikanen konfrontiert sind. „Die Verteidiger*innen verteidigen“ lautet dabei das prägnante wie bescheidene
Motto von HRDF.

HRDF leistete beispielsweise bereits Rechtsberatung und -vertretung für israelische und palästinensische Menschenrechtsverteidiger*innen, die an gewaltfreien Protesten gegen die israelische Besatzung in der Westbank teilnehmen, für die Rechte der einheimischen Beduin*innen in der Negev/Naqab-Wüste in Israel kämpfen, sich für LGBTQ-Rechte einsetzen, Israelis äthiopischer Herkunft, die mit Polizeibrutalität und Rassismus konfrontiert sind, und viele andere mehr. 96 Prozent der 230 Fälle aus 2022 endeten mit einem vollen oder partiellen Erfolg für die Angeklagten.

Neben dem FAR wurde am Antikriegstag auch der Human Rights Defenders Fund aus Israel & Palästina mit dem Aachener Friedenspreis ausgezeichnet.