„Wir konzentrieren uns auf das, was wir lieben“

Interview mit Olga Khil

Die ukrainische Facebook-Gruppe „Kidfriendly“ vernetzt Eltern aus Odessa und darüber hinaus. In der Gruppe finden die Menschen Trost, Hilfsangebote und nützliche Informationen. Das schafft ein Gemeinschaftsgefühl, das in der aktuellen Situation wichtiger ist denn je. Das forumZFD unterstützt das Projekt und hat mit der Gründerin Olga Khil über ihre Arbeit gesprochen.
Kidfriendly
© sevryukovaphoto.com

Liebe Olga, vielen Dank, dass du dir heute Zeit für dieses Gespräch nimmst. Unsere erste Frage lautet natürlich: Wie geht es dir und deinen Kolleg*innen von „Kidfriendly“? Seid ihr alle in Sicherheit?

Ja, ich bin in Sicherheit. Zurzeit bin ich in der Nähe von Stuttgart untergekommen, aber demnächst ziehe ich um nach Freiburg. Eine Kollegin ist mit ihrem Ehemann in die Slowakei gegangen. Wir machen uns Sorgen, aber um die anderen: Einige von ihnen sind noch immer in Odessa. Wir hatten heute morgen ein Online-Treffen und sie haben mir erzählt, dass sie in der Nacht Explosionen gehört haben. Sie sind also nicht wirklich in Sicherheit und die Situation ist sehr instabil.

Vor zehn Jahren hast du eine Facebook-Gruppe gegründet, um Eltern in Odessa miteinander zu vernetzen. Mittlerweile hat die Gruppe 40.000 Mitglieder. Was hat dich damals dazu bewegt, diese Gruppe zu gründen?

Bevor ich schwanger wurde, war ich immer sehr aktiv, und das wollte ich nicht aufgeben. Auf meinem eigenen Facebook-Profil hatte ich viele Freund*innen, aber dort wollte ich keine neuen Themen einbringen. Gleichzeitig habe ich mich so darüber gefreut, Mutter zu werden, dass ich meine Gedanken darüber teilen wollte. Vielleicht wollte ich auch die Art und Weise des Elternseins in Odessa verändern und den Fokus darauf legen, wie sowohl Eltern als auch Kinder glücklicher sein können. Also habe ich eine neue Facebook-Gruppe gegründet. Ich nannte sie „Kidfriendly“ („Kinderfreundlich“). Ich habe 30 meiner Freund*innen hinzugefügt und fing an, über Veranstaltungen und kinderfreundliche Cafés zu schreiben, über schicke Kinderwägen oder auch über die neuesten Erkenntnisse in der Psychologie. Einige Zeit lang war ich die einzige Person, die in der Gruppe etwas gepostet hat. Aber nach einer Weile sind immer mehr Menschen beigetreten und der Austausch nahm Fahrt auf.

Olga Khil gründete vor rund 10 Jahren die Facebook-Gruppe "Kidfriendly".

Wann wurde dir bewusst, dass „Kidfriendly“ mehr als nur ein ehrenamtliches Projekt sein würde?

Das war ungefähr 2017. Die Gruppe hatte zu diesem Zeitpunkt etwa 5.000 Mitglieder, die immer noch eine recht enge Gemeinschaft formten. Wir kannten uns mehr oder weniger alle untereinander. Aber dann wurde in der Ukraine ein russisches soziales Netzwerk geschlossen. Viele Menschen wechselten von dort nach Facebook. Von einem Tag auf den anderen waren in unserer Gruppe plötzlich 10.000 Mitglieder. Wir hatten den Eindruck, dass viele der Neuankömmlinge noch nicht mit unseren Werten und unserer Art zu kommunizieren vertraut waren. Ich arbeitete damals freiberuflich als Marketing-Managerin und die Moderation von „Kidfriendly“ nahm plötzlich meine gesamte Freizeit in Anspruch. Ich habe kurz darüber nachgedacht, die Gruppe zu schließen.

Aber dann entschloss ich mich, ein halbes Jahr lang zu versuchen, dieses Projekt hauptberuflich zu betreuen und davon meinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Ich fing an, Werbung zu schalten. Das hat neuen Schwung in die Gruppe gebracht, was mir sehr gefallen hat. Zeitweise hat eine Freundin mir ausgeholfen und Regeln für kommerzielle Kooperationen erstellt. So entstand unser Team, das in der Folge weiter gewachsen ist. Zum Beispiel kamen neue Leute dazu, die die Gespräche in der Gruppe moderierten, sich um neue Inhalte kümmerten oder um die Buchhaltung.

Wie können wir uns den Austausch in der Gruppe vorstellen?

„Kidfriendly“ vermittelt ein Gemeinschaftsgefühl. Die Leute lieben es, Teil davon zu sein. Oft entstehen neue Dinge von ganz allein, ohne dass die Gruppenleitung dies bewusst steuert. Die Menschen tauschen sich über alle möglichen Themen rund um’s Elternsein aus. Einige Mitglieder sind zum Beispiel Zahnärzt*innen oder Psycholog*innen und machen in der Gruppe auf ihre Angebote aufmerksam. Wir laden auch Expert*innen ein und ermuntern sie, sich mit der Community auszutauschen. Das birgt auch Risiken, sowohl für unsere Gäste als auch für uns als Moderator*innen. Denn wenn es um sensible Themen geht wie etwa Gesundheitsfragen, kann es schnell kontrovers werden. Deshalb ist es so wichtig, ausgebildete Moderator*innen dabei zu haben.

Seit Beginn des russischen Angriffs im Februar ist die Gruppe weiter gewachsen. Wie wirkt sich die aktuelle Situation auf die Kommunikation in der Gruppe aus?

Es stimmt, viele Menschen aus umkämpften Gebieten sind nach Odessa geflohen und der Gruppe beigetreten. Das hat ihnen ein Stück Sicherheit gegeben – das Gefühl, nicht allein zu sein. Sie finden in der Gruppe verlässliche Informationen zu Themen, über die sie sich große Sorgen machen: Wo finde ich eine gute Schule oder eine gute medizinische Versorgung für meine Kinder? Aber auch die Menschen, die Odessa verlassen haben – oder sogar das Land – sind in der Gruppe geblieben. Die Gemeinschaft gibt ihnen Trost und versorgt sie mit allgemeinen Informationen auch über Odessa hinaus.

Seit einiger Zeit beobachten wir allerdings zunehmende Konflikte zwischen den Menschen, die geblieben sind und denen, die das Land verlassen haben. Ein Beispiel: Manche Mütter zögern, die Ukraine zu verlassen und sich in Sicherheit zu bringen. Sie haben Angst, als schlechte Ukrainer*innen dargestellt zu werden. Also bleiben sie im Land, so wie im Fall der Mutter eines drei Monate alten Babys. Beide wurden getötet, als eine russische Rakete ihr Haus traf. Eine Frau in unserer Gruppe war sehr aufgewühlt von diesem Vorfall und fing an, Vorwürfe zu erheben gegen diejenigen, die diese Art von Druck ausüben. Der Post der Frau erhielt sehr viel Aufmerksamkeit und wir mussten sogar die Kommentarfunktion ausschalten. Dennoch finde ich es wichtig, dass wir diesen sicheren Raum bereitstellen, damit die Menschen ihre Sorgen teilen können. Wir müssen aber auch vorsichtig sein gegenüber Spionage in der Gruppe.

Was meinst du damit?

Als der Krieg begann, haben einige Menschen die Gruppe geflutet mit Informationen über Fluchtrouten aus der Ukraine. Einige dieser Posts kamen von Leuten, die erst kürzlich beigetreten waren. Dem Anschein nach waren es gefälschte Profile. Das hat uns alarmiert und wir haben begonnen, alle Profile von neuen Mitgliedern zu überprüfen. Stell dir vor, es würde jemand Informationen über eine vermeintliche Fluchtroute posten, die sich als Falle herausstellt! Wir haben schließlich entschieden, keine Posts zu Themen wie Fluchtrouten, der Situation auf den Straßen oder Bilder von Brücken zuzulassen.

Seit Beginn des Angriffs wurde es für euch immer schwieriger, Sponsoren für die Gruppe zu finden. Damit ist auch das Einkommen für das Team weggebrochen. Das forumZFD ist eingesprungen. Wie wichtig ist diese Unterstützung für euch?

Die finanzielle Unterstützung durch das forumZFD bedeutet, dass unser Team noch eine Arbeit hat – und das ist in der Ukraine leider keine Selbstverständlichkeit mehr. Viele Menschen haben seit Beginn des Krieges ihren Job verloren. Insofern ist es eine große Erleichterung, dass wir ein stabiles Einkommen haben. Außerdem ist unsere Arbeitsbelastung enorm gestiegen. Es hat uns immer viel Spaß gemacht, mit kommerziellen Partnern zusammenzuarbeiten – aber wir sind froh, dass wir in dieser schwierigen Situation nun nicht davon abhängig sind, Sponsoren zu finden um unsere Arbeit fortzusetzen. Wir können uns voll und ganz auf das konzentrieren, was wir lieben: Das Leben für Eltern und Kinder zu verbessern. Das forumZFD hat uns mit seiner Förderung auch geholfen, informelle und psychologische Unterstützung für die ganze Gruppe zu organisieren. Außerdem konnten wir finanzielle Hilfe an 500 bedürftige Familien in der Ukraine vermitteln.

Eure Arbeit ist eine echte Hilfe für die Menschen vor Ort. Welche Reaktionen erhaltet ihr darauf?

Eigentlich ist „Kidfriendly“ vor allem eine großartige Plattform für gegenseitige Hilfe! Ich erinnere mich an eine Frau, die in der Gruppe nach Kinderwägen gefragt hat, die sie an geflüchtete Familien weitergeben wollte. Am Ende hat sie nicht nur Kinderwägen bekommen, sondern auch Fahrräder, Spielzeug und andere Dinge. Sie hat sich so sehr darüber gefreut!

Eine andere Geschichte, die mir sehr in Erinnerung geblieben ist: Bereits vor dem Krieg haben wir eine Veranstaltung mit dem Titel „Elterngeschichten“ organisiert. Einer unserer langjährigen Partner, ein Einzelhändler mit einem großen Netzwerk von Läden für Kinderbedarf, hat ein Mittagessen in einem Restaurant gesponsort. Viele Menschen sind gekommen, vor allem Mütter, die kein festes Einkommen haben, zusammen mit ihren Kindern. Sie haben sich über ihre Erfahrungen ausgetauscht und konnten Fragen an Expert*innen stellen. Ich erinnere mich an eine Frau, die Fünflinge geboren und sich plötzlich als alleinerziehende Mutter wiedergefunden hatte. Sie fing an, in Sozialen Netzwerken aktiv zu werden und wurde richtig berühmt als Bloggerin. Sie ist so mutig und eine Inspiration für andere! Tatsächlich hatten wir dieses Jahr für den 24. Februar eine weitere Veranstaltung geplant – aber an diesem Tag begann der Krieg. Ich erinnere mich noch genau an den Schock, als ich von den Explosionen hörte. Mein erster Gedanke galt unserer Veranstaltung und ich konnte einfach nicht glauben, dass wir sie absagen mussten.

Ihr seid also nicht nur in Sozialen Medien sondern auch im ‚echten Leben‘ sehr aktiv.

Ja. Gelegentlich werde ich sogar auf der Straße erkannt. Wir haben früher diese Märkte organisiert, auf denen Kinder selbstgemachte Dinge verkaufen konnten. Die erste Veranstaltung Ende letzten Jahres war ein großer Erfolg. Wir durften den Garten des Kunstmuseums in Odessa nutzen. 150 Kinder haben mitgemacht und sie waren alle super kreativ und motiviert. Als ich noch in Odessa war, bin ich den Kindern oft auf der Straße begegnet und sie haben mich gefragt, wann endlich der nächste Markt stattfinden würde. Das war wirklich schön. Ich denke, es ist wirklich wichtig, dass die Kinder etwas haben, worauf sie sich freuen können.

Schmiedet ihr also schon Pläne für friedlichere Zeiten?

Nun ja, es ist zurzeit sehr schwierig, vorauszuplanen. Im Moment halten sich unsere Zukunftspläne in Grenzen. Wir denken über psychologische Unterstützung nach und über kleine Bildungsprojekte für Jugendliche in einem Tanzstudio. Vielleicht ein Ferienlager für den Sommer. Wir haben auch Pläne für eine Online-Konferenz mit Expert*innen. Und wir wollen die Beziehungen verbessern zwischen den Menschen, die Odessa verlassen haben und denjenigen, die geblieben sind.

Gibt es noch etwas, das du unseren Leser*innen in Deutschland mitgeben möchtest?

Eine Frage lässt mich nicht los: Was sollen wir tun, falls Odessa besetzt werden sollte? Ich bete, dass das nicht passiert, aber ich habe große Angst. Gleichzeitig habe ich die Hoffnung, dass wir diese Zeit gemeinsam mit unserem Team und mit unseren Expert*innen überleben werden. Ich bin den Menschen in Deutschland dankbar, die uns helfen und ihre Herzen öffnen. Es leben schon so viele Geflüchtete hier und trotzdem stehen die Türen weiter offen. Dafür möchte ich mich bedanken.

Danke für das Gespräch, Olga. Wir wünschen dir alles Gute!