Frau Halawani, Ihr Aktivismus begann mit einem Aufruf im Radio im Jahr 1982. Was hat Sie damals dazu veranlasst?
Seit dem Tag, an dem mein Ehemann entführt wurde, war ich auf der Straße unterwegs. Ich klopfte an alle Türen und stellte Fragen. Ich bekam immer dieselbe Antwort: „Es gibt noch mehr Menschen wie dich.“ Aber ich kannte niemand anderes. Ich dachte, meine Kinder und ich wären eine Ausnahme. Also beschloss ich, einen Aufruf im Radio zu veröffentlichen. Eigentlich wollte ich nur ein paar große, erwachsen wirkende Frauen finden, die mich begleiten, sodass ich ernst genommen würde – ich war ja so jung und klein. Ich habe die Uhrzeit und den Treffpunkt genannt und alle Angehörigen von Vermissten und Entführten eingeladen. Ich war überrascht, wie viele Frauen und Mädchen gekommen sind. Es war eine traurige Überraschung. Ich habe mich umgesehen und konnte die Ungerechtigkeit ihrer Situation kaum fassen. Mein Gedanke war: Wir müssen unbedingt etwas tun.
Wer war Wadad Halawani vor 1982?
Ich war Lehrerin an einer öffentlichen Schule. Die Wadad kurz nach der Entführung war verzweifelt verliebt in ihren Ehemann Adnan, den Vater ihrer zwei Kinder. Sie war nicht stark. Diese Wadad war ein verwöhntes Mädchen, denn sie war die jüngste ihrer Geschwister und musste kaum im Haushalt helfen. Natürlich schwelgte sie in Erinnerungen an ihren Ehemann und wollte nicht aufhören, ihn zu vermissen. In ihrem Kopf stritt sie sogar mit ihm und warf ihm seine Abwesenheit vor. Die Wadad von 1982 gibt es heute nicht mehr. Sie wurde zu einer völlig neuen Person.
Seit dieser Zeit fordern Sie Gerechtigkeit – nicht nur für Ihren Ehemann, sondern für viele Familien von Vermissten.Was hat Ihnen die Kraft gegeben, an die Spitze dieser Bewegung zu treten?
Meine große Liebe für Adnan und für meine Kinder hat mir Kraft gegeben. Wer würde sich um sie kümmern, sollte ich scheitern? Sie waren drei und sechs Jahre alt. Und natürlich haben mir auch die anderen Frauen Kraft gegeben. Am Tag unseres ersten Treffens im Jahr 1982 haben alle die ganze Zeit geweint, aber sie waren sehr stark. Ich schlug vor, zum Regierungspalast zu ziehen. Sie haben geweint und sich auf dem Weg gegenseitig ihre Geschichten erzählt. Zu dieser Zeit waren Versammlungen verboten. Als die Sicherheitskräfte begannen, uns zu schlagen und zurückzudrängen, verstand ich den Grund für die Stärke der Frauen: Sie hatten eine geliebte Person verloren und nun gab es nichts mehr, das ihnen Angst machte, keine Soldat*innen, keine Schusswaffen, nichts. Ein Beamter kam zu uns und fragte, wer hier das Sagen habe. Und dann sagte er, vier von uns sollten mit ihm mitkommen zum Premierminister. Die Frauen wollten unbedingt mitkommen und vier von uns quetschten sich in den Jeep in der Hoffnung, dass sie von dem Treffen mit ihren Liebsten nach Hause kommen würden. Der Premierminister versprach, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um uns zu helfen. Wir haben dann untereinander Namen ausgetauscht und vereinbart, eine solche Versammlung zu wiederholen. Und so entstand das Komitee, am 24. November 1982, genau zwei Monate nach der Entführung meines Ehemanns.
Ihre Bewegung wird von Frauen angeführt: Ehefrauen, Mütter, Töchter und Schwestern von denjenigen, die im Krieg entführt wurden oder verschwunden sind.Welchen Hindernissen sind Sie als Frau und Aktivistin begegnet?
Wer sagt, Frauen sollten nur herumsitzen und weinen? Ich nicht! Die Leute sagen: „Die arme Frau, und dann hat sie auch noch Kinder!“ Ich weigere mich, so gesehen zu werden. Mitleid zu zeigen und zu sagen, wie stark wir doch seien, kann nicht die Antwort sein. Marschiert mit uns! Teilt unsere Last! Das ist eine gesellschaftliche Verantwortung. 17.000 Menschen sind verschwunden oder wurden entführt. Sie sind die Verantwortung der libanesischen Regierung und der libanesischen Gesellschaft. Als unser Ruf immer lauter wurde, haben die Mächtigen uns gesagt, wir sollten zu Hause bleiben, weil wir Frauen sind. Die Leute haben uns gesagt, wir würden etwas Verbotenes tun und sollten uns schämen, auf der Straße unsere Stimme zu erheben. Aber es war scheinbar keine Schande, Frauen zu töten oder sie mit einem Gewehrkolben zu schlagen. Wir haben alle Formen physischer und emotionaler Gewalt erlebt: sexuelle Belästigung, psychische Gewalt, Erpressungen und Morddrohungen.
Sie haben es geschafft, die Familien der Verschwundenen über persönliche, religiöse und kulturelle Unterschiede hinweg zu vereinen, unabhängig von der Zugehörigkeit zu den gesellschaftlichen Gruppen, die für die Entführungen verantwortlich waren. Wie haben sie diese Konfliktlinien überwunden?
Die Entführungen haben keinen Unterschied zwischen gesellschaftlichen Gruppen gemacht. Alle waren betroffen. Ich bin muslimisch auf meinem Ausweispapier, aber die Menschlichkeit kommt an vorderster Stelle. Deshalb wollte ich während der ersten Proteste auch unter keiner Parteiflagge sitzen. Während des Krieges haben wir uns über die Konfliktgrenzen hinweg getroffen. Ich bin stolz darauf, zu sagen, dass das Komitee in unserem Land wirklich einzigartig ist. Bei uns sind Menschen aus jeder Gegend und mit jeder Religions- und Konfessionszugehörigkeit aktiv. Wir kämpfen für dasselbe Anliegen, aber unsere politischen Ansichten sind tabu. Wir konzentrieren uns auf die Sache. Dadurch, dass wir die Distanz zu allen Parteien, Religionen und politischen Bewegungen gewahrt haben, ist unser Anliegen unbefleckt geblieben.
Warum ist das Recht auf Wissen so wichtig?
Wir wollen zurück ins Leben. Der Frieden kam, aber für uns, die Angehörigen der Verschwundenen, wurde der Krieg bloß eingefroren. Eine Bombe hatte das Zentrum unseres Lebens getroffen, unser Zuhause. Für uns war der Krieg nicht beendet, er war lediglich von internationalen und regionalen Entscheidungen unterbrochen worden. Für uns gab es keine Wahl. Ich hatte nicht die Freiheit, meinen Lebensweg selbst zu wählen. Wir wollen einfach nur die Wahrheit wissen. Wir wollen wissen, ob unsere Liebsten tot sind oder noch am Leben. Erst dann wissen wir, ob wir trauern müssen oder glücklich sein können. Aber wir warten. Ich warte seit 1982 und es gibt Menschen, die schon seit 1975 warten. Viele Angehörige sind bereits verstorben.
Wie kann Versöhnung oder sogar Vergebung jemals möglich sein angesichts der Verbrechen, die während des Bürgerkriegs begangen wurden?
Manche sagen, dass sie die Verantwortlichen vor Gericht stellen wollen, weil sie wissen, was sie getan haben. Als Angehörige der Vermissten fordern wir nicht, jemanden für die Vergangenheit zur Rechenschaft zu ziehen. Wir wollen nur wissen. Ich würde einige Personen dafür strafrechtlich belangen, was sie in der Gegenwart anrichten: zum Beispiel, wenn sie falsche Daten herausgeben oder Informationen zurückhalten oder wenn es Korruption im Zusammenhang mit den Funden von Massengräbern gibt. Dann sollten sie zur Verantwortung gezogen werden. Ich interessiere mich nicht für ihre Taten in der Vergangenheit. Aber wenn sie die Ermittlungen sabotieren, dann verleugnen sie damit die Ungerechtigkeit, die uns widerfahren ist. Wir formulieren unsere Forderungen stets respektvoll. Wir errichten für niemanden einen Galgen. 2018 hat das Komitee die Verabschiedung des „Gesetzes 105“ erreicht. Das erlaubt Ermittlungen und Untersuchungen zu den Geschehnissen, aber es hat keine strafrechtliche Funktion.
Das Komitee hat es geschafft, individuelle Fälle zu einer nationalen Bewegung zu machen, die bis heute aktiv ist. Wie haben die Behörden auf Ihre Anfragen reagiert?
Sie haben versucht, sich aus der Affäre zu ziehen, indem sie die Erzählung umgedreht haben. Sie haben behauptet, unsere Forderungen nach Aufklärung würden einen neuen Krieg anfachen. Wir haben die gegenteilige Position verteidigt: Diese Fragen nicht zu klären, würde einen neuen Krieg bedeuten. In den letzten 40 Jahren gab es mehrere Präsidenten, Regierungen und Parlamente. Die Familien der Vermissten warten noch immer und ich weiß nicht, ob ich jemals eine Antwort bekomme. Sollen wir weitermachen wie bisher? Sollen wir die Hoffnung aufgeben? Es gibt so viele Fragen. Ich bin mir nur in einem Punkt völlig sicher: Wir müssen weiter für unsere Sache kämpfen. Ich wünschte, wir hätten einen echten Staat, der seine Bürger*innen respektiert. Dann würde dieser Fall zu einem Abschluss kommen. Aber wir leben nicht in einem echten Staat.
Bereits 2014 entschied der Schura-Rat, die höchste richterliche Instanz im Libanon, dass die Familien der Verschwundenen die Akten der offiziellen Untersuchungskommission einsehen dürfen. Wurde diese Entscheidung umgesetzt?
Die Untersuchungsberichte wurden den Familien übergeben, aber darin fanden wir keine neuen Informationen. Die Berichte enthielten lediglich die offiziellen Zeugenaussagen der Familien, in denen sie erklärt hatten, wie ihre Verwandten verschwunden waren.Die Regierung behauptete, die Untersuchung hätte ergeben, dass alle Vermissten tot seien. Aber als Beweis lieferte sie einzig die Zeugenaussagen der Familien. 2018 verabschiedete das libanesische Parlament jedoch das „Gesetz 105“ – nach 36 Jahren harter Arbeit von uns. Damit wurde schließlich eine unabhängige nationale Kommission eingerichtet, die das Schicksal der Verschwundenen aufklären soll. Das stellt ein Minimum an Gerechtigkeit her, aber noch gibt es kein Budget für die Kommission. Sie arbeitet nun also ohne Geld und ausreichendes Personal, da vier Mitglieder zurückgetreten sind. Was wir brauchen, sind finanzielle Mittel, sichere Räume zur Anhörung von Zeug*innen und Ersatz für die zurückgetretenen Mitglieder.
Das Abkommen von Taif beendete 1989 den Krieg im Libanon, aber der politische Stillstand zeigt die Zerrissenheit des Landes, die auch 33 Jahre später noch andauert. Was muss passieren, um gesellschaftliche Gräben zu überwinden?
Der Krieg hat geendet und wir begannen mit dem Wiederaufbau. Ich sage immer, die Bulldozer kamen und zerstörten die Knochen unseres Volkes. Die politischen Anführer*innen kamen von dem Friedensabkommen mit Scheren und einem großen Radiergummi zurück. Sie teilten das Land entlang der Konfessionen und Religionszugehörigkeiten und löschten die Vergangenheit aus, alswäre nichts passiert. Unsere Jugend trägt nun die Verantwortung dafür, dass sich die Vergangenheit nicht wiederholt und wir nicht in einen neuen Krieg hineingezogen werden. Als Familien der Vermissten hatten wir uns ein ehrgeiziges Ziel gesetzt. Unser Ruf nach Aufklärung über das Schicksal unserer Liebsten wurde zu einem nationalen Anliegen – eines, das dabei geholfen hat, wieder eine echte Heimat aufzubauen, in der alle Menschen willkommen sind. Wenn also die Regierung nach den Vermissten sucht, dann kann sie niemanden diskriminieren, denn bei der Suche sollte es nur um Menschen gehen. Gleichheit ist das Fundament einer echten Demokratie.
Das Gespräch führten Africa de Robert und Soha Fleyfil (forumZFD Libanon).
Das forumZFD im Libanon
Seit 2015 unterstützt das forumZFD das Komitee der Familien der Entführten und Vermissten im Libanon. Unter anderem half das forumZFD, die öffentliche Sichtbarkeit des Komitees zu vergrößern, und ermutigte die Frauen, sich für strukturellen Wandel einzusetzen und Rechenschaft einzufordern. Als Mitglied im „Forum für Erinnerung und Zukunft“ und durch Projekte im Bereich der Vergangenheitsbewältigung arbeitet das forumZFD im Libanon mit verschiedenen lokalen Partnerorganisationen daran, vielfältigen Perspektiven auf historische Ereignisse Gehör zu verschaffen. Dadurch steigt die gegenseitige Akzeptanz der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen im Libanon.