Ein Konflikt spielt sich in der Regel auf mehreren Ebenen ab, eine davon ist die Definition des Feindes. Von israelischer Seite wird der Krieg gegen den Libanon als Krieg gegen den Terrorismus und die Barbarei - verkörpert durch die Hisbollah - dargestellt. Von libanesischer Seite wurde er als von einem feindlichen Staat angezettelter Krieg gegen den gesamten Libanon bezeichnet. Die Hisbollah hingegen sieht sich selbst als Widerstandsbewegung, die gegen die israelische Expansion und Besatzung kämpft. Konfliktnarrative werden nicht aus dem Nichts erfunden. Es ist notwendig zu verstehen, woher sie kommen, um die Missstände zu beseitigen, die den Konflikt auslösen.
Während die gängigsten Narrative von israelischer Seite bekannt sind und in den europäischen Medien und politischen Debatten großen Raum einnehmen, sind die Konfliktnarrative aus dem Libanon weniger bekannt. Dieser Artikel beleuchtet den historischen Hintergrund der Rolle Israels bei der massiven Gewalt im Libanon, um das oft schwarz-weiße Denken, das die Konflikte im Nahen Osten umgibt, etwas zu nuancieren.
Israel betrachtet die palästinensischen Organisationen im Libanon, die Hisbollah, und ihre regelmäßigen Angriffe auf Israel als eine Bedrohung seiner nationalen Sicherheit und bezeichnet seine Angriffe auf das Land daher als Selbstverteidigung. Im Libanon gibt es eine andere Sichtweise. Auf dieser Seite der Grenze wird Israel weitgehend als Kolonialmacht betrachtet, die die libanesische Souveränität bedroht, Palästina besetzt hält und möglicherweise eine erneute Besetzung des Libanon anstrebt. Während die Rhetorik, ein „Groß-Israel“ zu errichten, das auch den Libanon einschließt, in Israel als Teil einer Randbewegung betrachtet wird, wird sie auf libanesischer Seite als sehr ernste Bedrohung empfunden. Wie mehrere andere Staaten mit arabischer Mehrheit hat der Libanon Israel nicht als Staat anerkannt, und es hat nie ein Friedensabkommen zwischen den beiden Ländern gegeben. Technisch gesehen befinden sie sich im Krieg, auch wenn es keine sichtbare Gewalt gibt, und auf zwischenmenschlicher Ebene ist es libanesischen Bürger*innen verboten, mit israelischen Bürger*innen zu verkehren.
Eine kurze Geschichte der israelischen Aggressionen im Libanon
Nach den Angriffen der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 begann die Hisbollah mit dem Abschuss von Raketen auf Israel aus dem Südlibanon, was sie als „Solidarität mit dem palästinensischen Volk“ bezeichnete. Dies war nur die jüngste Manifestation eines Konflikts, der tiefe historische Wurzeln hat, die mehrere Jahrzehnte zurückreichen. Die südlichen Regionen des Libanon waren schon lange vor 2023 Schauplatz zahlreicher Kriege, israelischer Invasionen und Besetzungen. Der Süden des Libanon, der sich vom Litani-Fluss bis zur Grenze Israels erstreckt, wurde zur Heimat tausender Palästinenser*innen, die während der Nakba bei der Gründung Israels 1948 vertrieben wurden. In den 1960er Jahren entwickelte er sich zu einer Basis des palästinensischen Widerstands gegen Israel, der mit der Gründung der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) als „Staat im Staat“ im Libanon bis 1982 seinen Höhepunkt fand.
Aufgrund der Präsenz der PLO marschierte Israel 1978 erstmals in den Libanon ein, um die PLO von der Nordgrenze des Landes zu vertreiben. Die Invasion führte zur Besetzung des Südlibanon bis zum Litani-Fluss durch Israel und zur Einrichtung der UNIFIL, einer UN-Friedensmission, die den Auftrag hat, die Grenze zwischen Israel und Libanon zu überwachen. 22 Jahre lang besetzte und kontrollierte Israel diese Region, die etwa 10 % des Libanon ausmacht, zusammen mit seinem libanesischen Verbündeten, der Südlibanon-Armee (SLA).
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Die SLA spielte eine wichtige Rolle im Kampf gegen die PLO im Südlibanon und verband sich im Laufe der Zeit immer enger mit Israel. In Khiam, einem kleinen Dorf in der besetzten Region, verwaltete die SLA mit Unterstützung und unter Aufsicht israelischer Regierungsbeamter ein gefürchtetes Gefangenenlager. In diesem Haftzentrum, das für die schwere Folterung von Gefangenen bekannt ist, wurden Libanes*innen festgehalten, die verdächtigt wurden, bewaffneten, Israel feindlich gesinnten Organisationen anzugehören. Die Gefangenen befanden sich jahrelang ohne Gerichtsverfahren und ohne Zugang zur Außenwelt in dem Zentrum. Tausende wurden inhaftiert, gefoltert, und mindestens zehn Menschen starben unter der Folter. Trotz der Bemühungen der Überlebenden und der Familien der Opfer wurde bis heute keine Rechenschaft über die Gräuel von Khiam abgelegt.
Ungeachtet der ersten israelischen Invasion griffen palästinensische Gruppen Israel weiterhin von libanesischem Boden aus an. Während die Palästinenser*innen dies als Kampf um die Rückgewinnung ihres Landes ansahen, betrachtete Israel es als Sicherheitsbedrohung und startete 1982 eine zweite, noch verheerendere Invasion des Libanon. Diesmal dehnte Israel seine Kontrolle nördlich des Litani-Flusses bis zur Küste aus und belagerte die Hauptstadt Beirut mit dem Ziel, die Angriffe zu stoppen, die PLO auszulöschen und eine pro-israelische libanesische Regierung zu installieren. Die Aggression von 1982 legte in vielerlei Hinsicht den Grundstein für den gegenwärtigen Konflikt und die Erzählungen über die israelische Gewalt im Libanon. Sie hat sich in das kollektive Bewusstsein der Libanes*innen eingebrannt, und die Wahrnehmung von Gewalt und kollektiver Bestrafung hallt in ähnlichem Ausmaß auch in der Gegenwart nach.
Für viele Menschen im Libanon ist das Jahr 1982 ein Jahr des Schreckens. Obwohl sich der Libanon seit 1975 in einem blutigen Bürgerkrieg zwischen verschiedenen religiösen und politischen Fraktionen befand, markierte die israelische Invasion und Belagerung Beiruts 1982 eine neue Eskalation. Die Rolle der PLO im Lande war ein äußerst kontroverses Thema und ein wichtiger Faktor für den Ausbruch des Bürgerkriegs. 1982 wurde die PLO unter internationaler Aufsicht aus Beirut vertrieben. Während der Belagerung Beiruts durch Israel wurde der gewählte libanesische Präsident, ein israelischer Verbündeter, ermordet und es wurden unbegründete Anschuldigungen gegen die Palästinenser erhoben. Aus Rache drangen seine Anhänger*innen mit Unterstützung der israelischen Armee (IDF) und mit Billigung der israelischen Regierung in die palästinensischen Flüchtlingslager von Schatila und den angrenzenden Stadtteil Sabra ein und setzten die Bewohner*innen entsetzlichen Gewalttaten aus. Das Töten und die sexualisierte Gewalt, die als „Massaker von Sabra und Schatila“ bekannt wurde, dauerte drei Tage lang an. Bei dem Massaker starben Tausende von Zivilist*innen, vor allem Palästinenser*innen und schiitische Muslime aus dem Libanon. Die IDF wurde später sowohl durch eine UN- als auch durch eine israelische Untersuchung für das Massaker verantwortlich gemacht.
Die Rolle Israels bei dem Massaker von Sabra und Schatila ist eines von vielen Ereignissen, die im Laufe der Zeit im Libanon eine anti-israelische Stimmung hervorgerufen haben. Nur acht Jahre später, im Jahr 1996, fand ein weiteres Massaker statt, bei dem Israel der Täter war. Diesmal in dem ebenfalls unter israelischer Besatzung stehenden Dorf Qana im Südlibanon, das in der Bibel als der Ort erwähnt wird, an dem Jesus Wasser in Wein verwandelte. In jenem Jahr beschoss Israel ein UN-Gelände, das seit 18 Jahren als Hauptquartier des Bataillons bekannt war und fast 800 Zivilist*innen beherbergte. Bei dem Massaker von Qana wurden 106 Menschen getötet und 116 verletzt, darunter auch fidschianische UN-Friedenssoldat*innen. Obwohl das Massaker eine Welle der internationalen Verurteilung auslöste und eine UN-Untersuchung einleitete, die zu dem Schluss kam, dass Israel das UN-Gelände höchstwahrscheinlich absichtlich beschossen hatte, haben die Opfer des Massakers von Qana keine Gerechtigkeit erfahren.
Für viele Menschen im Libanon sind die einst einfachen Namen von Orten wie „Sabra“, „Shatila“, „Khiam“, „Qana“ und sogar „Der Süden“ selbst zu Symbolen für israelische Besatzung, Aggression und Gewalt ohne Verantwortlichkeit geworden. Im Jahr 2000 wurde der Rückzug Israels aus dem Libanon, der eine 22-jährige Besatzung beendete, im ganzen Land euphorisch gefeiert. Der 25. Mai wird im libanesischen Kalender als „Tag der Befreiung“ bezeichnet, ein nationaler Feiertag zum Gedenken an die Befreiung des Südlibanon.
Die Anfänge der Hisbollah
Diese Ereignisse und die Rolle Israels dabei haben zu einer weit verbreiteten Feindseligkeit und Abneigung gegenüber Israel im Libanon beigetragen, was die Unterstützung für die schiitische politische Partei und bewaffnete Gruppe Hisbollah förderte. Die Hisbollah wurde nach der israelischen Invasion im Jahr 1982 gegründet und gewann während der israelischen Besetzung des Südens an Einfluss. Mit Unterstützung des Irans setzte sich die Hisbollah das Ziel, die Expansion Israels zu bekämpfen und sich der Besetzung des Libanon durch einen Guerillakrieg zu widersetzen. Im Laufe der Zeit wuchs die Organisation und wurde als militärischer Akteur, der als einziger nach dem Ende des libanesischen Bürgerkriegs angesichts der israelischen Besatzung des Südens seine Waffen behalten durfte, und als politischer Akteur, da sie ein Sozialprogramm sowie einen politischen Arm entwickelte, zu mehr als einer Guerillagruppe. Seit 1992 nimmt sie an den libanesischen Wahlen teil und hat mehrere Sitze im Parlament. Viele Staaten, darunter die meisten EU-Länder, stufen den militärischen Arm der Hisbollah als terroristische Organisation ein. Einige andere Staaten, darunter Deutschland und das Vereinigte Königreich, haben die gesamte Organisation, einschließlich des politischen und sozialen Zweigs, als solche eingestuft. Andere Staaten und nichtstaatliche Akteure, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Libanon, betrachten sie als legitime Widerstandsbewegung gegen Besatzung, Kolonialismus und Expansionismus.
Der Kampf zwischen Israel und der Hisbollah ist seit der Gründung der Hisbollah ein Grund für viel Gewalt im Libanon. Häufig führt die Hisbollah Guerillaoperationen durch, die Israel mit Luftangriffen beantwortet. Eine solche Eskalation fand im Juli 2006 statt, als die Hisbollah israelische Soldat*innen an der Grenze in einen Hinterhalt lockte und dabei drei von ihnen tötete und zwei entführte. Israel antwortete mit Luftangriffen und Artillerie auf den Libanon, die zivile Infrastrukturen wie den internationalen Flughafen und zahlreiche Straßen und Brücken beschädigten und den Süden des Landes sowie den südlichen Vorort von Beirut weitgehend zerstörten. Zu den Zielen gehörten auch das Museum und die Gedenkstätte in Khiam, die an die Opfer von Folter und Inhaftierung während der israelischen Besatzung erinnern. Der Krieg, der etwas mehr als einen Monat dauerte, forderte im Libanon mindestens 1.100 Tote, die meisten von ihnen Zivilist*innen, und fast eine Million Vertriebene. Auf israelischer Seite verloren 43 Zivilist*innen und 116 Soldat*innen ihr Leben. Die aktuelle Eskalation folgt einem ähnlichen Muster: Die Hisbollah beginnt mit einem Angriff auf militärische Ziele, während Israel mit der Zerstörung ziviler Einrichtungen und der Tötung von Nichtkombattant*innen antwortet.
Der Beginn des jüngsten Krieges
Im Jahr 2023 wurde der Libanon in den Krieg einbezogen, indem die Hisbollah ihre „Unterstützungsfront“ eröffnete. Dies geschah nach den akribisch geplanten Angriffen der Hamas auf ein Musikfestival und mehrere Kibbuzim am 7. Oktober. Bei diesen Angriffen wurden etwa 1200 Menschen getötet und 252 als Geiseln nach Gaza verschleppt. Die Entscheidung der Hisbollah, in den Krieg einzutreten, war nicht bei allen Libanes*innen beliebt, insbesondere nicht bei den christlichen und sunnitischen Fraktionen - den politischen Rivalen der Hisbollah. Schon vor dem Eintritt in den Krieg am 8. Oktober 2023 war die Hisbollah ein polarisierender Akteur, dem vorgeworfen wurde, den libanesischen Staat zu unterwandern und dank seiner überlegenen militärischen Macht einen „Staat im Staat“ zu errichten. Während sich die Kämpfe in der Zeit zwischen dem 8. Oktober 2023 und September 2024 hauptsächlich auf den Süden beschränkten, mit Ausnahme von gezielten Attentaten und gelegentlichen Angriffen in anderen Landesteilen, weitete sich der Krieg Mitte September auf den gesamten Libanon aus.
Diese Ausweitung des Konflikts begann am 17. September 2024, als etwa 2.800 Menschen verletzt und mindestens 9 getötet wurden, weil plötzlich im ganzen Land Pager-Geräte explodierten. Diese leicht veralteten Geräte wurden von Hisbollah-Mitgliedern, aber auch von Gesundheitspersonal in Krankenhäusern benutzt, um unbemerkt zu kommunizieren. Der wahllose Charakter der Angriffe, die Tarnung einer Waffe in einem scheinbar harmlosen Gerät sowie die Absicht, Terror unter der Zivilbevölkerung zu verbreiten, veranlassten Expert*innen dazu, dies als Verstoß gegen das Völkerrecht zu bezeichnen. Dies war nicht nur eine neue Form der Kriegsführung, die zu einer weit verbreiteten Erschütterung und Angst vor elektronischen Geräten führte, sondern auch eine weitere Eskalation des israelischen Krieges gegen den Libanon. Nach dem Pager-Angriff wurden die Luftangriffe häufiger und unvorhersehbarer, und bald darauf drangen israelische Soldat*innen in den Süden ein. Der erste Tag der ausgedehnten israelischen Bombardierung, der 23. September, war der tödlichste Tag in der Geschichte des Libanon, an dem fast 600 Menschen ihr Leben verloren. Der israelische Angriff führte auch zur Vertreibung von über 1 Million Menschen und zu mehr als 4000 Toten. Die Zivilbevölkerung ist unverhältnismäßig stark betroffen, was darauf hindeutet, dass Israel im Libanon Kriegsverbrechen begeht.
Erinnerungen und ihr Nachhall in der Gegenwart
Der gegenwärtige Konflikt zwischen der Hisbollah und Israel ist nicht neu, sondern verläuft seit Jahrzehnten zyklisch. Als Israel am 1. Oktober 2024 in den Südlibanon einmarschierte und behauptete, es handele sich um eine begrenzte Bodeninvasion, um die Hisbollah entlang der Grenze auszuschalten, war dies für die Libanes*innen die vierte israelische Invasion in ihrem Land. Auch wenn der Umfang dieses Mal anders ist, ist die Bedrohung durch Israel eine Konstante; viele im Libanon vermuten, dass diese „begrenzte Bodeninvasion“ ein erster Schritt zur Wiederbesetzung des Südens oder sogar größerer Teile des Libanon ist. Die Massaker, die im letzten Jahr in den Dörfern des Südens verübt wurden, ähneln denen aus den Jahren 1982, 1996 und 2006. Die Folterungen von Palästinenser*innen in israelischen Gefängnissen, über die in den Nachrichten berichtet wurde, erinnern an die Geschehnisse in Khiam. Die Angriffe auf Zivilist*innen, die in vielen UNRWA-Schulen im Gazastreifen Zuflucht gefunden haben, erinnern auch an israelische Angriffe auf UN-Einrichtungen im Libanon, wie etwa in Qana. Die Menschen im Libanon sind heute gezwungen, aus ihren Häusern und teilweise sogar aus dem Land zu fliehen, wie sie es 2006 getan haben.
Für die Menschen im Libanon ist das Narrativ des Feindes in sehr realen Erinnerungen, Erfahrungen und Ängsten verwurzelt, ebenso wie für andere Konfliktparteien, die derzeit große Teile der Nahostregion beherrschen. Um zu einer wirklichen Lösung zu gelangen, müssen diese widersprüchlichen Narrative und Leiden anerkannt und ihnen gleichzeitig Raum gegeben werden, denn wenn man den Akteuren einfache Etiketten verpasst und ihre Perspektive im Konflikt ignoriert, treibt man sie nur noch weiter auseinander. Die derzeitige Lage im Libanon und die Frage, ob der Waffenstillstand halten wird, sind unklar. Wenn ja, ist das nicht das Ende des Konflikts, aber es sollte der Beginn einer Auseinandersetzung mit den Narrativen sein, die er hervorbringt.