Zur letzten Wahl waren die europäischen Parteienbündnisse mit Spitzenkandidat*innen angetreten – verbunden mit der Erwartung, der Gewinner oder die Gewinnerin wurde die nächste EU-Kommission anführen. Schlussendlich setzten sich die Staats- und Regierungschef*innen darüber hinweg und entschieden sich für die damalige deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen. Diese kündigte schon bei ihrem Amtsantritt an, eine „geopolitische Kommission“ führen zu wollen.
Ihre Amtszeit war sowohl für die EU als auch global von großen Umbrüchen geprägt – um nicht zu sagen von Krisen und ‚Zeitenwenden‘: Covid-Pandemie, Russlands Krieg gegen die Ukraine und der Krieg in Nahost mit seinen globalen Auswirkungen. Schon während der Corona-Krise hat die EU unter Ländern des sogenannten Globalen Südens sehr viel Vertrauen verspielt und ihre Strahlkraft als Vorbildprojekt für Frieden, Demokratie und Menschenrechte eingebüßt. Allen Versprechen zum Trotz galt bei der Impfstoffproduktion nämlich Europa first, Rest der Welt second. Auf einen fairen, am Bedarf orientierten Verteilungsmechanismus, beispielsweise über die Weltgesundheitsorganisation, wollte sie sich nicht einlassen.
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Das sollte auch vermeintlichen Realpolitiker*innen zu denken geben, denn es ist eben nicht ihre militärische – und auch nicht ausschließlich ihre wirtschaftliche Stärke, auf der die weltpolitische Rolle der EU und ihrer Mitglieder aufbaut. Es ist ihre kulturelle Anziehungskraft als Projekt, das ihren Bürger*innen Frieden, Freiheit, Sicherheit und Wohlstand verspricht. Während der Corona-Krise hat die EU einen Teil dieses kulturellen Kapitals verloren. Als Europa dann im Februar 2022 in der UN-Generalversammlung angesichts des russischen Angriffs auf die gesamte Ukraine die Solidarität der Weltgemeinschaft einforderte, kam die Quittung. Einige Länder verweigerten trotz massiven diplomatischen Drucks ihre Unterstützung – nicht ausschließlich, aber eben auch, weil sie selbst vorher von europäischer Seite unsolidarisches Handeln erfahren hatten.
Aufrüstung auf Kosten von Frieden und Entwicklung
Die EU selbst setzt immer mehr darauf, ihre Interessen mithilfe von militärischem und wirtschaftlichem Druck durchzusetzen statt mit Diplomatie und Kooperation, geschweige denn ihre viel beschworenen Werte hochzuhalten. Der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, hat wiederholt gesagt, dass Europa „schnell lernen muss, die Sprache der Macht zu sprechen“. Diese Ausrichtung manifestiert sich in einer Reihe richtungsweisender Beschlüsse, wie etwa im „Strategischen Kompass“ der EU von 2022. Damit einher gehen umfangreiche Investitionen in Militär und Verteidigungsausgaben in allen EU-Mitgliedstaaten. Die Militärausgaben in Mittel- und Westeuropa haben im Jahr 2022 zum ersten Mal das Niveau vom Ende des Kalten Krieges im Jahr 1989 überstiegen.
Das bleibt nicht ohne Folgen für andere Budgets. War die EU im letzten Jahrzehnt noch die drittgrößte finanzielle Unterstützerin für zivile Krisenprävention und Friedensförderung weltweit und damit eine sehr wichtige Förderin für viele Friedens- und Menschenrechtsorganisationen auf der ganzen Welt, so wurde diese Förderung schon mit dem aktuell gültigen siebenjährigen Haushalt der EU (2021–2027) um ein Drittel reduziert. Im Februar 2024 hat die EU die Mittel aus dem Budget für „Nachbarschaft, Entwicklung und Internationale Kooperation“ sogar nochmals gekürzt, um mehr Geld für Migrationsabwehr ausgeben zu können. In nahezu allen EU-Mitgliedstaaten ist eine ähnliche Entwicklung zu beobachten. Sie kürzen die Gelder für die Entwicklungszusammenarbeit angesichts der angespannten Haushaltslage und zugunsten massiver Investitionen in Militär.
Geopolitik bestimmt zunehmend internationales Engagement
Es geht nicht nur darum, wie viel Geld in Zukunft in internationale Zusammenarbeit fließt, sondern auch, wofür genau es ausgegeben wird. Aus Sicht des forumZFD ist unabdingbar, dass die Förderung von Entwicklung, Frieden und Menschenrechten an den Bedürfnissen der Betroffenen ausgerichtet wird und Projekte in echter Partnerschaft mit lokalen Akteuren umgesetzt werden. Dabei kommt der Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle zu. Entsprechend kritisch ist ein Projekt zu sehen, das die EU-Kommission 2021 auf den Weg gebracht hat.
Es gibt allzu viele Beispiele, wo gerade große Wirtschaftsprojekte lokale Konflikte angeheizt haben.
Mit der „Global Gateway Initiative“ will sie 300 Milliarden Euro für große internationale Infrastrukturprojekte mobilisieren, um mit Chinas Seidenstraßenprojekt zu konkurrieren und sich als EU zu behaupten. Wenn Entwicklungsgelder vor allem in derartige geopolitisch inspirierte Projekte fließen, ist zu befürchten, dass sie kaum jenen zugutekommen, die Hilfe und Unterstützung am dringendsten brauchen. Im Gegenteil: Es gibt allzu viele Beispiele, wo gerade große Wirtschaftsprojekte lokale Konflikte angeheizt haben, wenn für ihre Umsetzung Landnahme, Vertreibung oder Umweltzerstörung in Kauf genommen wurden.
Doch die EU beschränkt sich nicht länger auf derartige Projekte, um Regierungen auf ihre Seite zu ziehen oder zur Kooperation bei der Abwehr von Flüchtenden zu bewegen. Mit der sogenannten „Europäischen Friedensfazilität“ hat die EU seit 2021 einen neuen Topf geschaffen, um Waffenlieferungen und Militäreinsätze zu finanzieren. Ein Großteil der Gelder wurde seit 2022 für die Ukraine eingesetzt, doch auch andere Länder und Armeen werden daraus unterstützt. Das forumZFD hatte wiederholt vor den Risiken derartiger Militärhilfe für Menschenrechte gewarnt. Diese zeigten sich zuletzt in Niger, dessen Armee ebenfalls aus dem Topf unterstützt wurde, und die im Juli 2023 gegen die demokratische Regierung des Landes putschte.
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Nach den EU-Wahlen ist eine Fortsetzung des beschriebenen Kurses in der Gemeinsamen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik der EU zu erwarten. Darauf deuten zumindest die Wahlprogramme der deutschen Parteien hin. CDU/CSU, SPD und Grüne setzen sich mit unterschiedlichen Akzenten für mehr militärische Fähigkeiten der EU und eine stärkere gemeinsame Verteidigungspolitik ein. SPD und Grüne betonen zugleich, Fähigkeiten für zivile Krisenprävention und Friedensförderung stärken zu wollen. Von den aktuell im Parlament vertretenen demokratischen Parteien spricht sich allein die Linke gegen eine stärkere gemeinsame Verteidigungspolitik der EU aus.
Auf Abschottungskurs
Neben dem stärkeren Fokus auf geopolitische Interessen und Sicherheitspolitik ist Migrationspolitik das andere große Politikfeld, das aus Sicht des forumZFD deutliche Kritik fordert. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben sich auf eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) verständigt, dem auch das EU-Parlament am 12. April zugestimmt hat. Diese Reform setzt die bereits praktizierte Abschottungspolitik fort und wird die Situation von Geflüchteten, die Schutz in Europa suchen, nach Einschätzungen von Menschenrechtsorganisationen dramatisch verschlechtern.
In den geplanten Grenzverfahren unter Haftbedingungen soll zunächst eine sogenannte „Zulässigkeitsprüfung“ erfolgen. Selbst Familien mit Kindern werden von den verpflichtenden Grenzverfahren und der Inhaftierung nicht ausgenommen.
Asylanträge von Schutzsuchenden, die über angeblich „sichere Drittstaaten“ eingereist sind, werden dann gar nicht mehr inhaltlich geprüft. Die Kriterien, wann ein Staat als „sicher“ genug gilt, sollen dem Vorhaben zufolge massiv aufgeweicht werden. Zudem soll an den europäischen Außengrenzen weiter aufgerüstet werden und es sollen Grenzanlagen ausgebaut werden.
Als zentrale Säule der EU-Asyl- und Migrationspolitik hat sich zudem in den letzten Jahren die Auslagerung von Migrationskontrolle und -abwehr an Nicht-EU-Staaten etabliert. Die EU kooperiert eng mit Sicherheitskräften autoritärer Regime wie in Tunesien und Ägypten, die diese Kooperation auch dazu nutzen, ihre eigene Macht im Inneren durch den Einsatz von Gewalt zu stärken.
Die jüngste Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) wurde von CDU/CSU, SPD und – wenn auch unter großem parteiinternem Protest – auch von den Grünen mitgetragen. In ihren Wahlprogrammen setzen die Parteien beim Thema Flucht und Asyl unterschiedliche Akzente, von der Bekämpfung „irregulärer Migration“ (CDU/CSU) bis zur Betonung des Rechts auf Asyl und dem Vorhaben, sichere Fluchtwege zu schaffen (SPD, Grüne, Linke). Menschenrechtsorganisationen fordern darüber hinaus beispielsweise eine europäische, zivile Seenotrettung.
Lichtblick Klimapolitik?
Mit dem European Green Deal ist es der aktuellen EU-Kommission zumindest gelungen, klare Ziele für den Klimaschutz zu vereinbaren und entsprechende Projekte auf den Weg zu bringen. Hinter dem großen Thema kann man bei genauerem Hinsehen auch einige kleinere, aber umso konkretere Fortschritte für die Friedensförderung entdecken. Friedensarbeit wird bei den europäischen Antworten auf die Klimakrise mitgedacht und – so ist zu hoffen – auch stärker gefördert. Die Wechselwirkungen von Klimakrise und Konflikten werden inzwischen in konkreten Politikansätzen der EU reflektiert. Mehr und mehr Friedensorganisationen, darunter auch das forumZFD, arbeiten bereits an Konflikten im Kontext von Klimakrise und Umweltzerstörung. Es ist also wichtig, dass die EU beim Thema Klimakrise die Friedensdimension mitdenkt und diese zivilen Ansätze unterstützt.
Der European Green Deal wird vor allem von rechtsnationalen und rechtsextremen Parteien scharf angegriffen. Es wird – auch aus friedenspolitischer Sicht – wichtig sein, dass die EU in Zukunft eine ambitionierte Klimapolitik macht.
Warum wählen so wichtig ist
Was werden die Abgeordneten des neuen EU-Parlaments, die wir am 9. Juni wählen, entscheiden? Worauf können wir also mit unserer Stimmabgabe konkret Einfluss nehmen? Die neue EU-Kommission kann ihr Amt nur mit Zustimmung der Parlamentarier*innen antreten. Dann starten schon im nächsten Jahr die Verhandlungen über den nächsten, sogenannten Mehrjährigen Finanzrahmen der EU. Die Abgeordneten können sich also dafür einsetzen, dass die EU wieder mehr Geld für Friedensförderung und Menschenrechte ausgibt und Mittel für eine ambitionierte Klimapolitik bereitstellt.
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Eine restriktive Rüstungsexportkontrolle wird in Zukunft wichtiger denn je, denn aktuell werden überall die Produktionskapazitäten erhöht. Damit die Waffen und Rüstungsgüter nicht für Menschenrechtsverletzungen eingesetzt werden, kann das Parlament sich für strengere und verbindlichere europäische Rüstungsexportrichtlinien einsetzen. Abgeordnete können von der Exekutive – in diesem Fall ist das die Europäische Kommission – Informationen einfordern, um ihre Kontrollfunktion auszuüben. Damit können sie einen Beitrag zu Transparenz und Aufklärung leisten, zum Beispiel zu Fragen, welche fremden Armeen Militärhilfe erhalten.
Aktuelle Umfragen sagen voraus, dass vor allem rechtskonservative und rechtsextreme Parteien gestärkt ins neue Parlament einziehen. Damit drohen weitere Verschärfungen in der europäischen Abschottungspolitik gegenüber Flüchtenden, Rückschritte bei der Klimapolitik und eine weitere Schwächung von Rechtsstaatlichkeit innerhalb der EU sowie dramatische Kürzungen bei ziviler Friedensförderung, Entwicklung und humanitärer Hilfe. Das gilt es zu verhindern. Mit einer hohen Wahlbeteiligung kann der Rechtsruck noch am besten verhindert werden.
Friedenspolitische Fragen zur Europawahl 2024
Gemeinsam mit anderen Organisationen haben wir die Wahlprüfsteine „Für ein friedensfähiges und solidarisches Europa“ herausgegeben. Darin finden Sie kurze Einführungen zu fünf Themen sowie dazugehörige Fragen. Wir ermutigen Sie, die Fragen beispielsweise im Rahmen von Wahlkampfveranstaltungen vor Ort an Ihre Kandidierenden zu richten.
Themen:
1. Friedensförderung und zivile Friedensmissionen ausbauen
2. Für eine menschenrechtsbasierte Asyl- und Migrationspolitik
3. Die Beziehungen mit Ländern des Globalen Südens gerechter gestalten
4. Rüstungsprojekte und Rüstungsexporte begrenzen und kontrollieren
5. Rüstungskontrolle wiederbeleben und Atomwaffen abbauen
Wir haben die Parteien bereits zu ihren friedenspolitischen Positionen befragt. Die Antworten dokumentieren wir auf unserer Website, damit Sie sich vor der Wahl eine Meinung bilden können.
Die Wahlprüfsteine und weitere Beiträge zur Europawahl 2024 finden Sie auf unserer Website unter:
www.forumZFD.de/eu-wahl-2024