Frau Maier-Witt, im Sommer geht nach 16 Jahren ihre Zeit als Friedensfachkraft zu Ende. Ist für Sie jetzt schon die Zeit des Rückblicks angebrochen?
Silke Maier-Witt: Nein, eigentlich noch nicht. Obwohl ich schon einige Erkenntnisse gewonnen habe, die ich mir als Resümee merken will. Aber ich kann es noch gar nicht richtig akzeptieren, dass jetzt Schluss sein soll.
Sie sind im Februar 2000 als erste Friedensfachkraft in den Kosovo ausgereist – in ein vom Krieg gezeichnetes und ethnisch zerrissenes Land. Dort mit Friedensarbeit zu beginnen, das muss eine enorme Herausforderung gewesen sein?
Ja, allerdings. Als wir während der Ausbildung zur Friedensfachkraft einen Film über zwei kosovarische Dörfer gesehen haben, war ich doch mehr als skeptisch, wie das gehen solle. Aber Hans Koschnick hat mir vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen in Mostar Mut gemacht. Er hat uns gesagt, dass auch in einem schwierigen Umfeld immer kleine Schritte möglich sind.
Wie war es dann, das neue Programm „Ziviler Friedensdienst“ in die Praxis umzusetzen?
Was wir ganz konkret machen sollten, war ziemlich offen. Meine ursprüngliche Idee war, mich als Psychologin in der Trauma-Arbeit zu engagieren. Ich habe dann von ‚Ärzte ohne Grenzen‘ eine Gruppe von Ärzten und Krankenschwestern übernommen, Weiterbildungen mit ihnen gemacht und ihre Fälle besprochen. Dann wollte ich Frauengruppen, vor allem alleinstehende Frauen in den Dörfern, darin ermutigen und unterstützen, sich zu organisieren, um ihre Rechte einzufordern.
Damals ging es also noch nicht um interethnischen Dialog?
Nein. Ich habe zwar auch mit Frauen der Goran, mit Serbinnen und Romafrauen zusammengearbeitet, aber Dialog war damals kaum möglich. Das einzige Mal, dass wir wirklich direkt an der Lösung eines Konfliktes beteiligt waren, war, als es bei der Verteilung von Hilfsgütern zu Spannungen zwischen Albanern und Roma kam. Da haben wir zum ersten Mal eine Art Mediation durchgeführt. Das lief auch ganz gut und wir waren mächtig stolz darauf.
Inwiefern konnte man dann überhaupt von Friedensarbeit sprechen?
Friedensarbeit war von Anfang an unser Ziel. Bei der Arbeit mit Frauen ging es darum, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass ein Aufeinander–Zugehen wieder möglich wird. Ich bin auch zu serbischen Frauen gefahren. Dabei habe ich beiden Seiten immer versucht klar zumachen, dass es auf der anderen Seite auch Leid gibt. So bin ich zwischen den Frauen hin und her gependelt. Aber direkter Kontakt fing erst später an, als wir mit der Frauengruppe auch serbische Dörfer besucht und die dort lebenden Frauen unterstützt haben. Später kamen Reisen zu Frauengruppen in Kroatien und Serbien hinzu – mit serbischen und albanischen Frauen aus dem Kosovo.
Kosovo war damals voll mit internationalen Organisationen. Wie lief die Zusammenarbeit?
Das war auch für mich eine ganz neue Erfahrung: Am meisten hat es mir die Augen geöffnet, als ich auf einem Koordinierungstreffen die Frage stellte, wo denn die lokalen Organisationen seien und die Verantwortliche für Demokratisierung antwortete: „Wenn wir die auch noch einladen, dann dauert das ja noch länger.“ Da hab ich gedacht: „Das kann ja wohl nicht wahr sein. Die Internationalen organisieren was und die Kosovaren stehen nur am Spielfeldrand und gucken zu.“
Und dagegen war Ihr Ansatz: möglichst Einbeziehung von allen, auch wenn es länger dauert?
Natürlich. Ich habe deshalb auch unter Hochdruck Albanisch gelernt, damit ich mich mit den Frauen in den Frauengruppen direkt auseinandersetzen konnte. Das ist mir auch ganz gut gelungen. Ich erinnere mich noch, wie ich mit dem Wörterbuch in der Hand die Unterhaltungen geführt habe. Ich habe mich immer dafür eingesetzt, dass die lokalen Organisationen zu Wort kommen. Später haben mir Leute gesagt: Wir waren die kleine Organisation mit den großen Zielen, die kein Geld zu vergeben hatte, bei der sie erst später merkten, dass sie trotzdem etwas von der Zusammenarbeit hatten. Mit zwei der Frauengruppen von damals bin ich immer noch in Kontakt. Eine hat mich sogar zur Ehrenvorsitzenden ernannt.
Was ist aus dieser Frauengruppe geworden?
Sie sind gewachsen und haben es tatsächlich geschafft, in einem gemischten Dorf in einer serbischen Enklave eine Frauengruppe mit Serbinnen und Albanerinnen zu gründen, haben die Stadt Prizren beraten, wie eine Politik für Frauen aussehen sollte. Sie haben die Situation alleinstehender Frauen thematisiert, und jetzt planen sie sogar eine Beratungsstelle für Männer, die ihre Frauen verprügeln. Ich glaube, dass sie schon ganz viel erreicht haben. Und darauf bin ich sehr stolz.
Welche Rolle hat Ihre eigene Geschichte als ehemaliges Mitglied der Rote Armee Fraktion (RAF) gespielt? War das vor Ort bekannt?
Das nahm zum Teil groteske Formen an. Ich war kaum im Kosovo angekommen, da gab es auch schon einen völlig entstellten Artikel in der Zeitung. Selbst mein Name war falsch wiedergegeben. Aber die Tatsache, wo ich herkam, war damit bekannt. Bei einem Empfang bei der deutschen KFOR habe ich erst durch das Getuschel gemerkt, dass eigentlich alle wussten, wer ich bin. Einige nahmen das ganz locker, aber es gab auch welche, die sagten: „Sie müssen schon verstehen, dass ich Ihnen nicht die Hand geben kann.“
Aber für Sie selbst hat das keine Rolle gespielt? Im Vorfeld Ihrer Entsendung war die Medienaufmerksamkeit auch in Deutschland groß. Haben Sie sich da nicht unter Beobachtung gefühlt?
Nicht direkt. Wenn, dann habe ich dadurch immer versucht, die Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was wir mit dem forumZFD machen.
Wo sagen Sie im Rückblick auf 20 Jahre Friedensarbeit: Da habe ich etwas bewirkt – das wäre ohne meinen Beitrag so nicht geschehen?
Ich habe mit beeinflusst, dass aus der Gruppe, die damals mit der Trauma-Arbeit angefangen hat, mehrere Psychologie studiert haben und ihre Erfahrungen in den Aufbau von psychosozialen Organisationen im Kosovo eingebracht haben. Und im forumZFD habe ich meinen Teil dazu beigetragen, dass wir eine Gleichberechtigung von Lokalen und Internationalen haben. Eine meiner Lehren lautet: Nichts ist schädigender als der persönliche Ehrgeiz einer Friedensfachkraft. Das ist, glaube ich, eine große Gefahr, insbesondere bei jungen und ehrgeizigen Leuten, die den Erfolg für sich haben wollen. Man muss aber den Mut haben, sich nicht so sehr in den Vordergrund zu drängen.
Wie hat sich Ihre Arbeit in den 16 Jahren entwickelt? Was machen Sie heute anders als in den ersten Jahren?
Ach, eigentlich nicht so viel (lacht). Ich sehe mich immer noch als Lernende. Inzwischen setze ich mich auch mit Politikern im weitesten Sinne auseinander, arbeite also nicht mehr nur auf der Graswurzelebene. Für einen interethnischen Dialog reicht es nicht aus zu sagen: „Hauptsache, die ethnischen Gruppen reden miteinander.“ Man muss sehen, dass auch innerhalb der jeweiligen Gruppen Prozesse in Gang kommen, die ihr Selbstbewusstsein stärken, und die Voraussetzungen geschaffen werden, den anderen auch dann zu akzeptieren, wenn er oder sie eine ganz andere Sicht auf die Dinge hat.
Was haben sie persönlich mitgenommen aus so vielen Jahren leben und arbeiten in Konfliktregionen?
Die Befriedigung, dass ich einen kleinen Teil dazu beitragen konnte, dass Leute sich engagieren. Ein, zwei, drei Seelen irgendwie angestoßen zu haben und noch immer gefragt zu sein als eine, die man schätzt. Von mehreren Seiten habe ich zu hören bekommen, ich sei die Schwester und nicht die Fremde. Das macht es auch so schwierig, jetzt hier aufzuhören.
Sie sind selbst auch Mitglied im forumZFD. Was hat der Verein aus Ihrer Sicht erreicht? Und was sollte er sich für die Zukunft unbedingt vornehmen?
Das Größte, was er erreicht hat, ist, den Zivilen Friedensdienst tatsächlich zu etablieren. Der Verein wird als eine Kraft wahrgenommen, die darauf drängt, dass es nicht um Sicherheitspolitik geht, sondern um Friedenspolitik. Ich denke, dass wir nun aber auf der Höhe der Zeit bleiben und sehr genau analysieren müssen, was gerade passiert. Was sind die neuen Gefahren für den Frieden? Ich wünsche mir, dass sich das forumZFD noch stärker positioniert, etwa zur Herausforderung durch die Flüchtlinge oder den Extremismus: Was können wir dagegen tun, dass junge Menschen sich dem Extremismus zuwenden? Das ist ja auch meine eigene Geschichte: Wenn Dein Gesichtskreis eingeschränkt wird und Du nur noch in eine Richtung denkst, dann gehst Du den Extremisten in die Falle. Das heißt, wir müssen auch Alternativen und Perspektiven aufzeigen. Ich finde gut, dass das forumZFD auch in Deutschland selbst tätig ist. Da hätte ich auch Lust, mich noch einmal einzubringen.
Herzlichen Dank für das Gespräch.