Das EU-Grenzregime ist Ausdruck eines „Sicherheitsimperialismus“, der auf Integration einiger weniger bei gleichzeitiger Exklusion vieler anderer zielt. Dass dabei die globalen Spaltungsverhältnisse weiter verschärft werden, nimmt die Europäische Union billigend in Kauf. Bemerkenswert ist, dass man sich in Brüssel der Gefahren, die aus der voranschreitenden Vernichtung von Lebensgrundlagen resultieren, durchaus bewusst ist, aber sie – wenn überhaupt – nur am Rande mit der eigenen Politik in Beziehung setzt. Nicht die ungerechten wirtschaftlichen Austauschverhältnisse, nicht die Spekulation mit Nahrungsmitteln und auch nicht das neoliberale Austeritätsdiktat gelten als Gefahren für die globalen Verhältnisse, sondern das, was daraus resultiert: der Staatszerfall, der Bevölkerungsdruck, die Verstädterung, die Migration, die Piraterie. Da die Ursachen für die Bedrohungen allesamt im Süden selbst ausgemacht werden, konzentrieren sich die Überlegungen, wie ihnen zu begegnen sei, auch nur darauf: Mit dem Ausbau der Entwicklungshilfe sollen Flucht und Migration ebenso verhindert werden wie mit Maßnahmen zur Bekämpfung von Schleuserbanden; und mit der Errichtung von Auffanglagern weit vor den europäischen Außengrenzen. Selbst ein „Pakt mit Despoten“ in Ländern wie Eritrea, Sudan oder Südsudan ist europäischen Politikerinnen und Politikern recht, wenn es darum geht, Flüchtlinge in Herkunftsregionen zurückzuhalten. (1)
Dass künftig inmitten unwirtlicher Wüsten Zeltstädte entstehen, wo Migrantinnen und Migranten beraten werden und ihre Aussichten auf Asyl in Europa vorab klären, ist wenig überzeugend. Von „Begrüßungszentren“ hatte der damalige Bundesinnenminister Otto Schily Anfang der 2000er-Jahre gesprochen; der gegenwärtige Innenminister Thomas de Maizière will mit „humanitären Schutzeinrichtungen“ Flüchtlinge aus den Fängen der Schleuser retten. Da bezweifelt werden darf, dass in den Ländern Nordafrikas eine rechtsstaatliche Prüfung von Asylanträgen garantiert werden kann, entpuppt sich auch der aktuelle Vorschlag als Augenwischerei. Ein Prototyp solcher Lager, das Spanien in den zurückliegenden Jahren auf mauretanischem Staatsgebiet unterhalten hatte, wurde übrigens kürzlich geschlossen. Zu laut waren die Proteste angesichts unhaltbarer Zustande. Im Volksmund hieß das Lager nur noch „Guantanamito“.
Deutlich wird, dass all das Bemühen der wohlhabenden Länder um Fluchtursachenbekämpfung und Migrationsmanagement von einer ganz einfachen Frage angetrieben wird: Wie kann man sich jene Menschen vom Leib halten, für die es in den profitablen Zonen der Welt keinen Platz zu geben scheint?
Das Recht zu gehen – und zu bleiben
Menschen, die bei uns nach Schutz suchen, mit Solidarität zu begegnen, ist ein ethischer Grundsatz. Voraussetzung dafür aber ist, den anderen überhaupt erst wieder als Menschen mit Bedürfnissen und Rechten zu erkennen. Ohne Zurückdrängung der neoliberalen Ideologie wird das nicht gehen. Wo nur Nützlichkeitserwägungen herrschen, geht der Respekt vor der Würde der anderen verloren.
Konkrete Alternativen zur gegenwärtigen Abschottungspolitik gibt es. Wer wirklich etwas gegen den Menschenhandel unternehmen will, sollte nicht mit militärischen Mitteln die Boote der Schleuser bekämpfen, sondern legale und sichere Migrationswege öffnen. Statt vorgelagerter Auffangzentren, die bei näherer Betrachtung nicht mehr sind als rechtsfreie Räume zur Unsichtbarmachung von Flucht und Migration, muss die rechtsstaatliche Prüfung von Asylgründen gewährleistest sein. Zur Verrechtlichung der Lage von Flüchtlingen könnte – ganz im Sinne von Hannah Arendt – die Fortschreibung des Völkerrechts beitragen. Überfällig sind internationale Abkommen, die etwa den Schutz von Klima- und Umweltflüchtlingen oder die Migration von Fachkräften regeln.
Um endlich auch Maßnahmen angehen zu können, die über pures Krisenmanagement hinausreichen, ist ein grundlegender Politikwechsel nötig. Solange auf die wachsende Spaltung der Welt mit mehr Abschottung, höheren Mauern und immer neuen Sicherheitstechnologien reagiert wird, geht die Entwicklung notwendig in die Irre. Erst die Rückbesinnung auf eine Politik, die den sozialen Zusammenhalt wieder fordert, statt ihn zu unterminieren, schafft die Voraussetzungen, dass allen „das Recht, Rechte zu haben“, wieder zuteilwerden kann.
Dazu aber braucht es mehr als wohlfeile Sonntagsreden. Es geht um die Schaffung der normativen und materiellen Voraussetzungen für ein gemeinwohlorientiertes Zusammenleben auf globaler Ebene: um die internationale Angleichung von Arbeitsstandards, eine effektive Regulierung umweltschädigender Produktion, die Kontrolle der Extraktionsökonomie und nicht zuletzt auch die Gewährleistung von sozialen Sicherungssystemen für alle Menschen an allen Orten der Welt, beispielsweise einen solidarisch finanzierten Internationalen Fonds für Gesundheit. Erst dann wäre das doppelte Recht verwirklicht: das Recht zu gehen und das Recht zu bleiben – ohne dafür das eigene Leben aufs Spiel zu setzen.
(1)„Grenzen dicht: Europas Pakt mit Despoten“, in Beitrag von Nikolaus Steiner und Charlotte Wiedl für Monitor, ARD, 23.7.2015