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Ein Land steht auf

Bei den Protesten im Libanon überwinden die Menschen die alten Feindschaften des Bürgerkriegs

Seit Monaten demonstrieren die Libanesinnen und Libanesen gegen Korruption und Misswirtschaft der politischen Führung. Angesichts mangelnder Fortschritte schlägt die Wut der Menschen zunehmend in Gewalt um, und die Proteste bringen lange unterdrückte Emotionen an die Oberfläche. Nie war Friedensarbeit wichtiger.
Libanesinnen und Libanesen protestieren gegen die politische Führung
© Julia Neumann

Tripoli an einem nasskalten Tag im Januar. In der zweitgrößten Stadt des Libanons stehen weiße Zelte aneinandergereiht auf dem zentralen Sahet el-nour, dem Platz des Lichtes. Unter weißen Planen, die um Holzrahmen gespannt sind, sitzt der 30-jährige Aktivist Youssef Youssef mit sechs jungen Menschen um einen provisorischen Tisch aus zwei Autoreifen mit Kerzen und wärmt sich die Hände an einem kleinen Kohlegrill. Die Gruppe diskutiert über Erfahrungen, die sie bei den Protesten in Beirut gemacht haben. Manche von ihnen fahren regelmäßig die knapp 80 Kilometer in die Hauptstadt, um rund um das Regierungsgebäude und Parlament zu protestieren.

Seit dem 17. Oktober zeigen sich die Libanesinnen und Libanesen vereint wie nie zuvor in ihrem Protest gegen die Korruption und Misswirtschaft der Regierung. An diesem Tag gingen Tausende Menschen spontan auf die Straße, um für ein Ende der Vetternwirtschaft und gegen die Politik für Reiche zu protestieren. Der Plan des Informationsministers, eine Steuer von sechs US-Dollar pro Monat auf Kurznachrichtendienste wie WhatsApp zu erheben, hatte das Fass zum Überlaufen gebracht. Es war die jüngste Ankündigung politischer Entscheidungen zulasten der Bevölkerung, um einen Staatsbankrott abzuwehren. Menschen aller sozialen Schichten, Geschlechter und Religionen gingen wochenlang auf die Straßen, um den Sturz der politischen Elite zu fordern, die das Land seit 30 Jahren beherrscht. Sie schwenkten die rot-weiße Nationalfahne mit dem grünen Zedernbaum, sangen gemeinsam die Nationalhymne und riefen: „Vom Norden bis in den Süden, die Revolution wird nicht sterben.“

Die Einheit der Menschen, das Zugehörigkeitsgefühl und die Vereinigung unter der libanesischen Flagge sind nicht selbstverständlich. Im Libanon leben 18 anerkannte Religionsgemeinschaften. Von 1975 bis 1990 bekämpften sich verschiedene Milizen entlang ihrer konfessionellen Linien. Als die Waffen endlich schwiegen, blieb die Spaltung der Gesellschaft in die verschiedenen Religionsgemeinschaften ebenso bestehen wie die gegenseitigen Vorurteile. Die ehemaligen Milizenführer sicherten sich nach dem Ende des Krieges die Macht durch Klientelismus. Diese Macht nutzen sie, um dem Land durch Korruption Geld zu entziehen, das sie dann in kleineren Portionen an ihre jeweilige Religionsgemeinschaft zurückverteilen. Nun stellen sich die Protestierenden gegen dieses konfessionelle System.

Das wahre Ende des Bürgerkriegs?

„Zu Beginn der Aufstände lautete der Slogan, dass der Bürgerkrieg am 17. Oktober 2019 beendet wurde“, sagt Soha Fleyfil, Projektkoordinatorin im Programm „Die Vergangenheit aufarbeiten“ des forumZFD. Die Geschehnisse des Bürgerkrieges im Libanon sind nie bewältigt worden, unter anderem weil die Kriegsverbrechen durch ein Amnestiegesetz nicht verfolgt wurden, erklärt Fleyfil. „Im Libanon glauben die Menschen noch immer, dass es ‚mich‘ und ‚die Anderen‘ gibt. Und es gibt immer noch Regionen, in die Libanesinnen und Libanesen nicht gehen, weil ‚die Anderen‘ dort leben und sie Angst vor ihnen haben.“ Die forumZFD-Projektkoordinatorin organisiert Trainings, in denen die Teilnehmenden über verschiedene Narrative des Bürgerkriegs sprechen. „Es geht nicht darum, die Täterinnen und Täter und die Opfer zu benennen, sondern wir reden über kollektive Traumata.“

Die blinden Flecke im kollektiven Gedächtnis des Landes stehen einer besseren Zukunft im Weg, so Fleyfil. „Ich selbst wurde im Bürgerkrieg geboren. Wir sprechen nicht über unsere Erfahrungen. Wir sind eine vergessene Generation, die einfach zufrieden ist, dass der Krieg beendet wurde. Und wir haben uns nicht mit unseren Traumata auseinandergesetzt.“ Fleyfil sagt, sie selbst traue sich nicht auf die Straße für die Proteste, weil die Menschenmassen und die Schreie bei den Kundgebungen schlechte Erinnerungen weckten.

Emotionale Unterstützung auf den Plätzen

Das Chaos auf der Straße kann beängstigend und frustrierend sein. Deshalb sitzt Youssef Youssef täglich von zwei Uhr mittags bis in die Abendstunden im Zelt auf dem Sahet el-nour in Tripoli. An der Eingangsseite hängen Pappschilder. „Wie geht es dir?“ und „wir bieten Empathie“ steht darauf. Auf einem Schild ist eine Batterie gemalt, die sich auflädt. „Wir sind hier, um psychosoziale Unterstützung zu geben“, sagt Youssef Youssef. Er arbeitet für die Nichtregierungsorganisation „House of Peace“, einem Partner des forumZFD.

„Diese Situation weckt Gefühle, die vorher schliefen“, erklärt Youssef. „Unsere Gesellschaft hat uns beigebracht, dass du Gefühle nicht ausdrücken solltest, weil das Schwäche zeigt. Wir hören den Leuten zu und schaffen einen sicheren Ort, an dem sie sich wohlfühlen, über Ärger oder Ängste zu sprechen.“ Manchmal hört er bedrückende Geschichten. „Drei ehemalige Kämpfer aus Babl el-Tabbaneh, einem Stadtviertel von Tripoli, sind zu mir gekommen. Sie haben mir erzählt, wie ihr Bruder getötet wurde, die Schwester vergewaltigt. Und ich habe mich gefragt: Warum erzählen sie mir diese Geschichte gerade jetzt? Ich glaube, es gibt eine Verbindung: Die Situation erinnert sie an den Krieg, Gruppen bekämpfen sich, und jeder kann machen, was er will.“

Der Aktivist Youssef Youssef (Bildmitte) hört den Protestierenden aufmerksam zu, wenn sie über ihre Erfahrungen berichten. Dieser Raum für Gespräche wird dringend gebraucht, findet der 30-Jährige.

„Viele Menschen fühlen sich hilflos“ 

Youssef hört geduldig zu, auch wenn es persönlich wird. „Einmal hat ein Mann meine Religion angegriffen, weil er diese religiöse Gruppe in der Vergangenheit bekämpft hat.“ Mit dem forumZFD hat Youssef vier Trainings in gewaltfreier Kommunikation im Rahmen des Programms „Fähigkeiten entfalten“ absolviert. Er fühlt sich emotional stark und gewappnet für solche Gespräche: „Ich fühle mich gut, ich kann damit umgehen. Ich fokussiere mich auf die Gefühle und Bedürfnisse meines Gegenübers.“ Manchen gibt er den Kontakt einer Psychologin, die kostenlose Sitzungen anbietet.

Mit der psychischen Gesundheitsfürsorge unterstützt Youssef die Menschen während der Proteste. „Ich glaube, dieser Raum für Gespräche wird dringend gebraucht. In dieser verrückten, unsicheren Zeit und der schlechten ökonomischen Lage haben sich viele Menschen bereits das Leben genommen, weil sie sich hilflos fühlten“, sagt er. Viele aus seinem Freundeskreis organisieren Kleidung, Nahrungsmittel und Medizin, die sie im nahe gelegenen Zelt verteilen. Eine der Organisatorinnen erzählt von Gerangel in den Schlangen bei kostenlosen Essensausgaben. Laut einer Studie der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2015 leben mehr als die Hälfte der Einwohnerinnen und Einwohner von Tripoli unter der Armutsgrenze.

Der Libanon steckt in der schwersten Wirtschaftskrise seit Ende des Bürgerkriegs vor dreißig Jahren. Das libanesische Pfund hat stark an Wert verloren. Die üblichen Stromausfälle dauern länger als sonst, es drohen Internetausfälle. Die Frustration der Bürgerinnen und Bürger über die Sparmaßnahmen der Regierung hatte sich seit Oktober 2019 anfangs in friedlichen Kundgebungen entladen.

Eine neue Phase der Eskalation

Doch im Verlauf der Proteste hat die Wut der Bevölkerung zugenommen, weil sich die wirtschaftliche Lage weiter verschlechtert und sich die politische Führung mit der Bildung einer neuen Regierung Zeit ließ. Ende Oktober war der damalige Ministerpräsident Saad Hariri als Antwort auf die Massenproteste zurückgetreten. Sein Nachfolger Hassan Diab hat zwar eine neue, technokratische Regierung gebildet, den Protestierenden ist sie aber nicht unabhängig genug. Sie gehen weiter auf die Straße und fordern Neuwahlen.

Straßenkämpfe statt Sitzblockaden

„Wir sind nun in einer anderen Phase der Proteste“, sagt forumZFD-Landesdirektor Hillenkamp. „Die Forderungen wurden formuliert, aber ihnen wird nicht begegnet. Das ist unverantwortlich.“ Die Atmosphäre auf den Straßen hat sich gewandelt. In der Innenstadt Beiruts, in der zu Beginn der Proteste Tausende die libanesische Flagge schwangen und friedliche Sitzblockaden organisierten, schlagen verärgerte Protestierende mit Metallstangen Fensterscheiben von Bankfilialen ein, werfen mit Steinen und Knallkörpern. Die Polizei reagiert hart mit Gummigeschossen, Wasserwerfern und Tränengas.

Wenn die 27-jährige Mariam Al Kotob diese ausbrechende Wut sieht, ist sie zunächst zwiegespalten. „Du siehst die Menschen, wie sie die Banken demolieren, und du denkst: Das ist es, was ich will! Aber dann denkst du: Nein, es ist nicht das, was ich gelernt habe.“ Die gelernte Grafikdesignerin ist Aktivistin bei der Organisation „We Love Tripoli“. Im Rahmen des Projekts „Gemeinsame Zukunft Jetzt!“ hat sie sich beim forumZFD Libanon in gewaltfreier Konflikttransformation weitergebildet. In den ersten Tagen der Proteste spendeten Organisationen Zelte für Aktivistinnen und Aktivisten. Mit Bekannten organisierte Al Kotob Whiteboards, Plakate und Stifte. Sie ermutigte die Leute, ins Zelt zu kommen und dort ihre Gedanken aufzuschreiben. „Die Menschen waren draußen, aber haben keine sichtbaren Forderungen formuliert. Wir dachten: Die Menschen sollten ihre Begehren aufschreiben und sich daran erinnern, warum sie auf der Straße sind.“

Eines Tages kam eine Reporterin des libanesischen Fernsehsenders MTV vorbei. „Sie hat mich gefragt, warum ich hier bin und was wir machen, als plötzlich ein Mann ins Zelt kam. Er war sehr wütend, suchte nach der Kamera und rief dazu auf, zum Sitz der Partei des Präsidenten zu gehen und alles niederzubrennen. Wir waren live im Fernsehen, und die Reporterin brachte ihn dazu, sich neben mich zu setzen.“ Al Kotob sollte versuchen, ihn mit gewaltfreier Kommunikation zu überzeugen, dass Brandstiftung keine Lösung ist. „Da ist also dieser verärgerte Mann vor mir, der die Büros niederbrennen will, und ich weiß, wenn ich ihm sage, er solle das nicht machen, wird er nicht auf mich hören.“ Sie entschied sich dafür, Empathie zu zeigen. „Es geht nicht darum, ihm zu sagen, was er machen soll. Das brauche ich ihm nicht sagen. Was ihn beruhigt hat, war die Art, wie ich kommuniziert habe: Ich verstehe, was du sagst und wie du dich fühlst. Lass uns gemeinsam nachdenken, ob uns das zum Ziel führt.“

Was bewegt die Menschen im Libanon? Die Aktivistin Mariam Al Kotob lädt die Protestierenden ein, ihre Gedanken aufzuschreiben.

Vor den Aufständen organisierte Al Kotob zum Beispiel Filmabende und Ausflüge für die Menschen in der Nachbarschaft, damit sie ein neues Wir-Gefühl in der Stadt entwickeln. Die Proteste haben das neue Gemeinschaftsgefühl bestärkt, besonders in Tripoli. Die Küstenstadt liegt im Norden des Landes nahe der syrischen Grenze. 2014 führte der Krieg im Nachbarland auch in Tripoli zu neuen Spannungen. Die überwiegend alawitische Bevölkerung im Stadtteil Dschabal Mohsen unterstützte den syrischen Präsidenten Assad, während die Menschen des mehrheitlich sunnitischen Viertels Babl el-Tabbaneh den syrischen Oppositionellen zugewandt waren. Dieser Konflikt entfachte gewalttätige Kämpfe.

Das „Herz“ der Revolution

„Tripoli wurde lange als Stadt des Terrors gesehen“, sagt die Aktivistin Al Kotob. Die Proteste haben der Stadt ein neues Image gegeben. Der Sahet el-nour war lange Zeit das Zentrum der größten und am längsten anhaltenden Proteste im Land. Noch bevor man in Beirut überhaupt auf die Idee kam, legte in Tripoli bereits ein DJ für die Massen auf. Schnell gewann die Stadt den Ruf als „Braut“ und „Herz“ der Revolution. „Die Menschen haben ihren Ärger herausgetanzt.“

Die Zelte, in denen auch Mariam Al Kotob und Youssef Youssef aktiv sind, wurden zu Treffpunkten, neue Freundschaften entstanden. „Wir haben gemeinsam musiziert und gesungen, geredet und diskutiert. Vorher gab es nie einen Raum, in dem wir uns hätten begegnen können“, sagt Al Kotob begeistert. Noch ist unklar, welche politischen Folgen die Proteste im Libanon haben werden. Aber auch wenn die Gewalt auf den Straßen zunimmt und die Situation zu eskalieren droht, bleiben nachhaltige Erinnerungen, die Chancen für positiven Wandel geschaffen haben.
Landesdirektor Bernhard Hillenkamp sagt, das politische Bewusstsein der Menschen sei nun stärker ausgeprägt. „Die Menschen haben erfahren, dass sie gemeinsam mit ‚den Anderen‘, sprich mit Menschen anderer Religionszugehörigkeit, politisch an einem Strang ziehen können. Auf diese Erfahrung kann man in der Friedensarbeit aufbauen, besonders, um über konfessionelle Linien hinweg zu arbeiten.“

 

Die Autorin Julia Neumann ist freie Journalistin in Beirut.

 

Das forumZFD im Libanon

Seit 2009 ist das forumZFD im Libanon aktiv. Die Arbeit gliedert sich in drei Programmbereiche:

Vergangenheit bewältigen: Wir unterstützen die aktive Aufarbeitung des Bürgerkriegs, zum Beispiel indem wir Jugendliche mit Zeitzeugen ins Gespräch bringen. Unser eigens entwickeltes Handbuch hilft Lehrkräften, vielfältige Blickwinkel auf Vergangenheit und Gegenwart in den Unterricht einzubeziehen.

Fähigkeiten entfalten: Lokale Organisationen im Libanon sind oft hoch motiviert, doch es fehlt an Fachwissen über Methoden der gewaltfreien Konfliktbearbeitung. Unser umfassendes Schulungsangebot stärkt nachhaltig die Kapazitäten der Zivilgesellschaft.

Gemeinschaft mobilisieren: Unsere Projekte fördern gezielt den sozialen Zusammenhalt. Wir unterstützen unsere lokalen Partner unter anderem bei der Konzeption und Durchführung von Nachbarschaftsaktionen, um Spannungen abzubauen und Vorurteile zu überwinden.

https://www.forumzfd.de/de/libanon

 

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