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Die sprechenden Wände von Amman

Graffiti in Jordanien

In dieser Blogreihe beschäftigen wir uns mit lokalen Methoden der Konflikttransformation in Jordanien. Darunter sind sowohl traditionelle als auch unkonventionelle Initiativen. Dieses Mal geht es darum, wie sich Street Art zu einer Plattform der Bewusstseinsbildung und Konflikttransformation auf jordanischen Straßen entwickelt hat.
Al Hashmi
© Baladak

Mein ganzes Leben lang hat mich das Sprichwort „Mauern haben Ohren“ begleitet. Irgendwann habe ich realisiert, dass Mauern manchmal auch Münder haben und Geschichten erzählen können, wenn man tief in sie hineinschaut.

Seit der Antike waren Mauern ein Symbol für Stärke und Schutz. Menschen glaubten, dass ihnen nichts passieren kann, wenn sie ein Dach über dem Kopf und vier Wände um sich herumhaben. Heutzutage geben die Mauern bisher unerzählte Geschichten preis. Graffiti in hellen, bunten Farben bedecken die Mauern von Amman und füllen seine Straßen mit den unzähligen Geschichten der Menschen, die hier leben. Während Street Art früher als Vandalismus und somit als illegal galt, wird sie heute als wichtiges Instrument für Frieden und Konflikttransformation in der jordanischen Gesellschaft angesehen. Hier sind ein paar Einblicke in die Geschichte des Graffitos und wie es sich in diesem Land entwickelt hat:

Vor nicht allzu langer Zeit, in den frühen 2000er-Jahren, wurde Amman „die weiße Stadt“ genannt, eine Metapher für seine vielen weißen Gebäude. Erst vor wenigen Jahren hat sich die Stadt hin zu einer farbenfrohen Kunstausstellung entwickelt, die den Straßen die dringend benötigte Positivität verleiht. Zweifelsohne kann das Leben in einer so kaputten Metropole wie Amman herausfordernd sein. Teilweise herrscht angespannte Stimmung, alles scheint grau und die Menschen brauchen Hoffnung, um die schwierige Lage, in der sie sich befinden, zu überwinden.

Als Versuch, die Lebensfreude wieder zu wecken, hat eine Gruppe von Freiwilligen und Freunden des Al Balad Theaters 2013 ein Projekt namens Baladak („deine Stadt“) ins Leben gerufen. Das Projekt zielt darauf ab, eine Verbindung zwischen Street Art, vor allem Wandbildern, und der Gesellschaft zu schaffen. Vor 2013 hatte die Kunstszene nur begrenzt Reichweite und Einfluss, und für die Menschen war Kunst exklusiver Luxus, von dem nur die gesellschaftlichen Eliten profitierten. Um zu zeigen, dass alle ein Recht auf Kunst haben, unabhängig vom gesellschaftlichen oder kulturellen Hintergrund, zielte Baladak zuerst auf die verarmten Viertel von Amman. Die Viertel im Zentrum, Weibdeh und Al-Hashmi, waren voller  Kalkstein- und Betonmauern. Für die Street Art Künstler*innen waren sie die perfekten leeren Leinwände, um eine neue künstlerische Strömung zu schaffen, ihre kreativen Fußabdrücke zu hinterlassen und die Stadt künstlerisch umzugestalten.

In der ersten Runde gelang es Baladak, die Gegenden wiederzubeleben. Menschen aus ganz Amman kamen vorbei, um die neuen Kunstwerke zu bewundern. Alle waren fasziniert von den Farben, der Energie und der Kreativität, die das neue Projekt versprühte. Die Viertel waren stolz, ihre neuen Attraktionen zeigen zu können, und schon bald wurde Baladak zu einem jährlich stattfindenden Festival. Es bringt seitdem lokale und internationale Künstler*innen, Kunstgruppen und Community-Mitglieder zusammen, die an Kunst als mächtiges Instrument für positive Veränderung glauben.

Neben der Modernisierung von Ammans alten Vierteln nutzten Street Art Künstler*innen ihre Talente, um wichtige, aber häufig übersehene soziale Probleme für die Öffentlichkeit sichtbarer zu machen. Dabei waren die Künstler*innen sehr erfolgreich darin, starke Botschaften zu vermitteln, die den Blick der Gesellschaft auf bestimmte Themen wie Geschlechterungleichheit, Diversität, Diskriminierung von Minderheiten, Mobbing in Schulen und mentale Gesundheit veränderten.

© Al Webdeh

Tag für Tag wurden die Straßen so zu einem sicheren Ort für die Menschen, um sich frei auszudrücken, ihre Probleme zu äußern und konkrete Lösungen zu finden. Es ist erstaunlich wie eine so einfache und spontane Aktion wie Kunst auf der Straße so viele Türen der Kommunikation geöffnet, Verständnis gefördert, Empathie entwickelt und einen positiven Wandel unterstützt hat. All das sind wichtige Attribute der Friedensschaffung.

Als Allaa‘ addin, Street-Art-Künstler und Gründer der Amman Untergrund Tour (ein Spaziergang, auf dem den Leuten von der Street Art Szene der Stadt erzählt wird), gefragt wurde, wie Street Art sein Leben beeinflusst, antwortete er, dass sie seine Wahrnehmung der Dinge um ihn herum verändert. „Seit ich ein kleiner Junge bin, begleitet mich ein beliebtes Gedicht von Al Motannabi. Es signalisiert den Menschen, dass sie im Leben nicht alles bekommen werden, was sie wollen. Eines Tages bin ich durch die Regenbogenstraßen gelaufen und habe dasselbe Gedicht gesehen, allerdings umformuliert. Dieses Mal war die Botschaft, dass wir volle Kontrolle über unser Schicksal haben und mit harter Arbeit alles erreichen können, was wir wollen. In dem Moment als ich das Caligraffito (eine Mischung aus Graffiti und Kaligraphie) gesehen habe, hatte ich ein gutes Gefühl. Da habe ich realisiert, dass Street Art den Menschen unendlich viele Möglichkeiten bieten kann, ihnen Hoffnung gibt und sie ermutigt sich eine eigene Meinung zu bilden“.

© Anonymous Graffiti artist

„Street-Art-Künstler*innen auf der ganzen Welt teilen die gleichen Werte: Liebe, Frieden und Einheit. Ich bin glücklich und stolz, dass Street Art in Jordanien immer beliebter wird. Die Leute sehen und verstehen jetzt den Wert von Street Art“, fügte er hinzu.

In den Straßen von Amman kommen immer mehr Graffiti dazu und entwickeln sich so langsam zu einer kulturellen Praxis, die die Probleme Jordaniens auf eine künstlerische Art und Weise sichtbar macht. Während Graffiti in vielen Ländern der Welt nach wie vor illegal sind, war Jordanien eins der ersten Länder, das Wandbilder erlaubt und geschätzt hat. Solange ein*e Künstler*in die Erlaubnis für ein Wandbild an einem vereinbarten Ort hat, die Botschaft des Kunstwerks gewaltfrei ist und die kulturellen Werte herüberbringt, kann jede*r die Straßen von Amman mit seinen*ihren Kunstwerken verschönern.

Als Friedensfachkraft merke ich jeden Tag, dass wir keine anspruchsvollen Werkzeuge brauchen, um unsere Arbeit zu machen. Wir können mit den einfachsten Dingen Frieden schaffen und Konflikte lösen und transformieren, zum Beispiel mit einer Sprühdose oder einem Pinsel.

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