Droht in Bosnien-Herzegowina ein neuer Krieg? Diesen Eindruck könnte man bekommen, wenn man dieser Tage die öffentliche Debatte im Land verfolgt. Eine solche Frage erscheint dramatisch, aber zur Erinnerung: Als der Krieg vor 30 Jahren begann, brachte er Gräueltaten unvorstellbaren Ausmaßes mit sich. Unzählige Menschen wurden ermordet, vertrieben, gefoltert, vergewaltigt oder sind bis heute spurlos verschwunden. Die Erinnerungen daran sind vielen Menschen noch deutlich im Gedächtnis und die Folgen der Gewalt prägen den Alltag nach wie vor. Wie also ist das Land so weit gekommen, dass erneut das Wort „Krieg“ die Runde macht?
Der bewaffnete Konflikt wurde im Dezember 1995 mit dem sogenannten Abkommen von Dayton beendet. Seitdem hat sich ein ‚negativer‘ Frieden über das Land gelegt: Zwar schweigen die Waffen, doch die ethnische Diskriminierung hält an und bis heute ist die Verherrlichung und Leugnung von Kriegsverbrechen allgegenwärtig. Umstrittene und einseitige Auslegungen historischer Tatsachen finden immer mehr Verbreitung, obwohl die Fakten akribisch dokumentiert und längst in Gerichtsurteilen bestätigt sind. In der öffentlichen Debatte werden derartige Aussagen normalisiert und sorgen für Spannungen in allen Bereichen der Nachkriegsgesellschaft.
In Gradiška, einer Kleinstadt in der serbisch geprägten Teilrepublik Republika Srpska, blickt ein Mann in tarnfarbener Uniform von einer Hauswand herab auf die vorbeiziehenden Passant*innen. Alle hier kennen dieses Gesicht: Es ist Ratko Mladić, Oberbefehlshaber der Armee der Republika Srpska während des Bosnienkriegs und ein verurteilter Kriegsverbrecher. 2017 befand ihn der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag in mehreren Anklagepunkten für schuldig, darunter Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Davon völlig unbeeindruckt zeigt ihn ein weiteres Wandgemälde in seinem Heimatort Kalinovik mit der Überschrift: „Stadt der Helden“.
Historische Tatsachen werden bestritten
„Wir sind in einer Situation angelangt, in der Kriegsverbrechen gefeiert und die Täter*innen verherrlicht werden“, sagt die unabhängige politische Beobachterin Tanja Topić, die selbst aus der Republika Srpska stammt. „Anstatt dass juristische Verantwortung für die Taten übernommen wird, beobachten wir die Verleugnung und Relativierung solcher Verbrechen und – was noch gefährlicher ist – Revisionismus.“ Es gibt viele Beispiele, wie historische Tatsachen verdreht oder im Sinne der eigenen politischen Agenda umgedeutet werden. Sogar Gräueltaten wie der Völkermord von Srebrenica werden bestritten.
Unter dem Kommando von Ratko Mladić ermordeten die Polizei und Militärkräfte der Republika Srpska im Juli 1995 über 8.000 bosniakische Männer und Jungen, und vertrieben etwa 25.000 Frauen, Kinder und ältere Menschen. Eine Studie des „Memorial Center Srebrenica“ aus dem letzten Jahr untersuchte die aktuelle Medienberichterstattung in Bosnien und Herzegowina und den benachbarten Staaten und listete 234 Fälle auf, in denen die Verbrechen geleugnet oder verharmlost wurden. Die Studie benannte auch die Verantwortlichen: Viele derjenigen, die ihre eigenen Versionen der Geschehnisse in Srebrenica verbreiten, sind in der Politik aktiv, einschließlich früherer und derzeitiger Amtsträger*innen.
An der Spitze dieser unrühmlichen Liste steht Milorad Dodik, Vorsitzender der serbisch-nationalistischen Partei SNSD und derzeit Mitglied im dreiköpfigen Staatspräsidium, dem gemeinsamen Staatsoberhaupt von Bosnien und Herzegowina, das sich aus je eine*r Vertreter*in der bosniakischen, serbischen und kroatischen Bevölkerungsgruppen zusammensetzt. Dodik hat den Völkermord von Srebrenica bereits mehrfach als „fabrizierten Mythos“ bezeichnet.
Es ist nicht das erste Mal, dass er Kriegsverbrechen öffentlich leugnet. Im Jahr 2016, damals noch als Premierminister der Republika Srpska, hielt er eine Rede bei der Einweihung eines Studierendenwohnheims. Das Gebäude wurde nach dem verurteilten Kriegsverbrecher Radovan Karadžić benannt. In seiner Rede sagte Dodik: „Wir widmen diesen Ort dem Mann, der zweifellos den Grundstein für die Republika Srpska gelegt hat – Radovan Karadžić, dem ersten Präsidenten dieser Republik.“ Eine Gedenktafel mit Karadžićs Namen wurde erst Jahre später von dem Gebäude entfernt.
Traumata immer wieder durchleben
Die Leugnung der Kriegsgräuel hat viele Gesichter in Bosnien und Herzegowina: von Behauptungen, solche Taten hätten gar nicht stattgefunden, über die Relativierungen der Opferzahlen bis hin zu Verschwörungsmythen und ‚alternativen Fakten‘. In einigen Fällen wird die bloße Anerkennung solcher Verbrechen oder das Gedenken an die Opfer als Aggression gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen interpretiert.
Der Menschenrechtsaktivistin Štefica Galić zufolge zeigt sich der problematische Umgang mit der Vergangenheit besonders deutlich in der Republika Srpska sowie im Westen der Region Herzegowina und in Teilen der Nachbarstaaten Serbien und Kroatien. Überall im öffentlichen Raum finden sich hier Wandbilder von Kriegsverbrecher*innen, verbotene Fahnen, Wappen und andere Kriegssymbole. Nationalistische Politiker*innen und Regierungsmitglieder von beiden Seiten der Grenzen versammeln sich an umstrittenen Jahrestagen, etwa zur Feier der „Kroatischen Republik Herceg-Bosna“, einem Zusammenschluss mehrheitlich kroatischer Regionen während des Bosnienkriegs, der vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag als „kriminelles Unternehmen“ eingestuft wurde.
Für die Überlebenden des Krieges, die Angehörigen der Opfer und zurückgekehrte Vertriebene bedeuten solche Symbole und Gedenkfeiern, dass sie tagtäglich mit der Verherrlichung verurteilter Straftäter*innen konfrontiert werden. Wieder und wieder durchleben sie ihre Traumata, und die Furcht vor neuen Aggressionen ist ständig präsent. Geschürt auch von solchen Vorfällen: „Die Hölle wird kommen und das Wasser der Drina wird sich blutig
färben“, sangen Angehörige eines nationalistischen serbischen Vereins im März 2020 bei einer Versammlung.
Können Änderungen am Strafgesetzbuch helfen?
Die Situation erreichte ein derartiges Ausmaß, dass sich im Juli 2021 der damalige Hohe Repräsentant für Bosnien und Herzegowina, Valentin Inzko, der die Umsetzung des Dayton-Abkommens überwacht, zum Handeln genötigt sah: Er erließ Änderungen am Strafgesetzbuch, welche die Leugnung von Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit unter Strafe stellten. Seitdem ist es landesweit untersagt, rechtskräftig verurteilte Gräueltaten in irgendeiner Form zu leugnen, zu rechtfertigen, zu trivialisieren oder Täter*innen zu verherrlichen.
Inzko betonte, er sei diesen Schritt nur deshalb gegangen, da vorherige Anläufe im regulären Gesetzgebungsverfahren gescheitert seien: „Die Bürger*innen von Bosnien und Herzegowina haben viele Jahre darauf gewartet, dass ihre gewählten Abgeordneten dieses sehr ernste Thema gesetzlich regeln. Jedoch wurden alle bisherigen Versuche blockiert.“
Die Menschenrechtsaktivistin Štefica Galić sagt, das Eingreifen des Hohen Repräsentanten sei notwendig gewesen, „da die Urteile des Internationalen Strafgerichtshofs beharrlich geleugnet werden. Kriegsverbrecher*innen werden als Held*innen verehrt und das wird auch noch als patriotischer Akt betrachtet. Der Staat ist gelähmt in einem eingefrorenen Konflikt und der konstanten Furcht vor neuen Auseinandersetzungen. Es gibt kein Mitgefühl für die Opfer der anderen, keine Verurteilung der eigenen Verbrechen. Die Situation ist unerträglich geworden.“
Zivilgesellschaftliche Organisationen und Opferverbände begrüßten den Schritt des Hohen Repräsentanten, äußerten aber gleichzeitig Kritik, dieser sei viel zu spät erfolgt – buchstäblich drei Tage vor dem Ende seiner zwölfjährigen Amtszeit. Schon lange zuvor hatten Aktivist*innen, Nichtregierungsorganisationen und auch Stimmen aus der internationalen Gemeinschaft die Politik des Landes ebenso wie den Hohen Repräsentanten zum Handeln aufgefordert. Das forumZFD hatte sich gemeinsam mit TRIAL International seit 2019 für eine gesetzliche Regelung eingesetzt und unter anderem öffentliche Diskussionen zum Thema veranstaltet.
Ljiljana Siničković, Landesdirektorin des forumZFD, hob mit Blick auf die nun verabschiedete Regelung hervor, dass sich diese nicht gegen eine bestimmte Bevölkerungsgruppe richte. Vielmehr seien die Vorschriften ethnisch neutral und sollten gleichermaßen in allen Fällen zur Anwendung kommen, in denen gerichtlich bestätigte Verbrechen geleugnet oder verurteilte Kriminelle verherrlicht würden.
Politische Blockaden und Drohungen
Diese Sichtweise teilen jedoch nicht alle. Besonders in der Republika Srpska trafen die Änderungen auf heftigen Widerspruch. Der Parteivorsitzende Milorad Dodik nannte sie ein „Gesetz gegen die Serb*innen“, womit er nahelegte, damit würde einer bestimmten ethnischen Gruppe die kollektive Schuld für die Verbrechen zugeschrieben. Abgeordnete der Republika Srpska begannen eine Blockade der staatlichen Institutionen: Sie nahmen nicht mehr an Treffen teil und verhinderten jegliche Diskussionen und Beschlussfassungen. Zugleich verbreitete sich im Land ein Geraune vom ‚Anfang des Krieges‘.
Schon bald griff der Konflikt von der politischen Ebene auf die lokalen Kommunen über: In Prijedor zum Beispiel, Schauplatz einiger der brutalsten Verbrechen während des Krieges, erschienen Ende letzten Jahres an öffentlichen Orten zahlreiche Wandbilder von Ratko Mladić und faschistische Symbole wie Hakenkreuze. Einen Tag vor Weihnachten bedrohte eine Schmiererei unverblümt Menschen muslimischen Glaubens: „[Er] rennt über das Feld, ich fange ihn und schlachte ihn ab“ (Anm. d. Red.: Im Original verwendete das Graffito eine abwertende Bezeichnung für junge Muslime, die wir hier nicht wiederholen).
Trotz der angespannten Lage im Land fiel die Reaktion der internationalen Gemeinschaft verhalten aus, einschließlich der Stimmen aus der Europäischen Union und des neuen Hohen Repräsentanten, Christian Schmidt. Der frühere deutsche Landwirtschaftsminister trat seinen Posten im August 2021 an und zog zum Jahresende öffentlich in Betracht, die von seinem Vorgänger erlassenen Änderungen am Strafgesetzbuch wieder zurückzuziehen unter der Bedingung, dass der Gesetzgeber eine eigene Regelung erlasse.
Die politische Beobachterin Tanja Topić aus der Republika Srpska hält dies für einen höchst gefährlichen Weg: „Die Änderungen wieder auf den Verhandlungstisch zu legen, im Sinne eines Zugeständnisses an die ethnisch-nationalistischen Kräfte, wäre ein Rückschritt und ein Schlag ins Gesicht für all diejenigen, die über Jahre dafür gekämpft haben, diese Gesellschaft zu mehr Höflichkeit und Offenheit im Umgang mit der Vergangenheit zu bringen. Die Rücknahme der Änderungen wäre das schlimmste Signal und würde den Zusammenbruch aller europäischen Werte bedeuten, die in Bosnien und Herzegowina vorangetrieben werden sollen.“
Wenn die Entscheidung in den parlamentarischen Gesetzgebungsprozess zurückgereicht werde, bestünde ein beträchtliches Risiko, dass neu verhandelte Regelungen unzureichend ausfielen, so Topić. Schließlich hätten vier frühere Versuche auf staatlicher Ebene keinen Erfolg gebracht – mangels politischem Willen.
Alles nur ein Machtspiel?
Bosnien und Herzegowina steckt in einer tiefen Krise, das Wort „Krieg“ macht die Runde. Manche Beobachter*innen halten dieses Getöse für eine gezielte Manipulation, eine politische Angstmacherei vor den anstehenden Wahlen. Schließlich hätten gerade nationalistische Kräfte ihre Macht darauf aufgebaut, Hass zwischen den Bevölkerungsgruppen zu schüren. In dieser Interpretation sind beispielsweise Abspaltungsdrohungen seitens der Republika Srpska nichts anderes als ein Erpressungsversuch, um andere politische Ziele durchzusetzen. „Niemand hier will Krieg, nicht einmal die, die danach rufen“, versichert eine Beobachterin. Und dennoch: Die Furcht, die solche Machtspiele bei den kriegstraumatisierten Menschen erzeugt, ist real.
Allerdings wäre es falsch, anzunehmen, dass gesetzliche Regelungen allein für Frieden und Vertrauensaufbau sorgen könnten: Zusätzlich brauche es ernsthafte Anstrengungen auf gesellschaftlicher Ebene, sind sich Tanja Topić und Štefica Galić einig. Dies schließe eine Reform des Bildungssystems ein, ebenso wie eine verantwortungsvolle Berichterstattung der Medien sowie Maßnahmen zur Eindämmung von Hassrede in sozialen Netzwerken. Es bleibt also noch viel Arbeit auf dem Weg zu einem echten Frieden in Bosnien und Herzegowina.