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Corona im besetzten Land

Wie eine Frauengruppe im Westjordanland mit der Pandemie und der Besatzung umgeht.

Ausgangssperre, Isolation, Reisebeschränkungen und ein Gefühl von Kontrollverlust – die meisten Menschen in Europa machen diese Erfahrungen in der Corona-Krise gerade zum ersten Mal. Für die 4,5 Millionen Palästinenser*innen im Westjordanland und im Gazastreifen sind solche Beschränkungen seit Langem Alltag. Dennoch stellt die Pandemie die tief gespaltenen Gesellschaften in Israel und Palästina vor neue Herausforderungen.
Corona Isarel Palästina 1
© Iuna Vieira

In Israel haben sich bis Mitte April mehr als 12.000 Menschen mit dem neuartigen Coronavirus infiziert, weit über hundert sind nach Angaben der Johns-Hopkins-University gestorben. Aus dem Westjordanland wurden bislang über 300 Ansteckungen gemeldet sowie zwei Todesfälle durch COVID-19. Die Zahlen wachsen stetig an und insbesondere die zwölf Infektionen im Gazastreifen haben Gesundheitsexpert*innen weltweit alarmiert.

Eine flächendeckende Ausbreitung des Virus hätte fatale Folgen in dem dicht besiedelten und nach außen abgeriegelten Gebiet. Vertreter*innen der Vereinten Nationen hatten Gaza bereits vor der Corona-Pandemie mit Blick auf die Gesundheitsversorgung als „unbewohnbar“ bezeichnet. „Liebe Welt, wie fühlt sich die Ausgangssperre an? Freundliche Grüße, die Menschen aus Gaza“ – mit solchen und ähnlichen Beiträgen machen die Einwohner*innen in sozialen Netzwerken darauf aufmerksam, dass sie bereits seit 14 Jahren unfreiwillig vom Rest der Welt isoliert sind.

Soziale Spaltung erschwert Gesundheitsvorsorge

Sowohl die israelischen als auch die palästinensischen Behörden reagierten mit frühzeitigen und strikten Maßnahmen auf die Gesundheitskrise. In Israel dürfen sich die Menschen nur noch in einem Radius von hundert Metern um ihr Zuhause bewegen. Atemmasken und Schutzhandschuhe sind in der Öffentlichkeit Pflicht. Allerdings macht es die tiefe Spaltung der israelischen Gesellschaft schwierig, die Regelungen in allen Teilen der Bevölkerung durchzusetzen. Insbesondere in ultraorthodoxen jüdischen Nachbarschaften regt sich Widerstand.

Auch an der Klagemauer müssen Gläubige Abstand halten.

Die Folge ist, dass strengreligiöse Gemeinschaften wie die Stadt Bnei Brak in der Nähe von Tel Aviv mit die höchsten Infektionsraten aufweisen. Über 40 Prozent der rund 200.000 Einwohner*innen von Bnei Brak haben sich Schätzungen zufolge bereits angesteckt, weswegen die Stadt unter Quarantäne gestellt wurde. Der Widerstand ultraorthodoxer Gemeinden gegen die Auflagen der Regierung und vor allem gegen das Versammlungsverbot führte zu noch strengeren Vorschriften für das gesamte Land. Dagegen sind die nachgewiesenen Krankheitsfälle in arabischsprachigen Gemeinden in Israel auffallend niedrig. Die Tageszeitung Haaretz warnt jedoch, dies sei kein Beleg für eine geringere Ansteckungsrate. Vielmehr sei ein Grund für die niedrigeren Zahlen, dass palästinensische Bürger*innen in Israel einen schlechteren Zugang zu Corona-Tests hätten.

„Die Menschen in Bethlehem sind unverwüstlich“

Auf der anderen Seite der Mauer, in Palästina, wurden die ersten Corona-Fälle am 5. März nachgewiesen. Tourist*innen hatten das Virus nach Bethlehem gebracht. Der palästinensische Präsident Mahmud Abbas verordnete eine totale Ausgangssperre der Stadt. Die Menschen in Bethlehem, die schon früher Abriegelungen erlebt haben, etwa während der zweiten Intifada, ließen sich davon nicht aus der Ruhe bringen. „Verglichen mit früheren Ausgangssperren ist diese Situation relativ leicht für uns“, sagt Basil Zbun. Der Arabischlehrer aus Bethlehem unterrichtet nun ausschließlich per Videokonferenz.

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Basil erzählt: „Wir hatten schon damit gerechnet und sogar noch Zeit, zum Supermarkt zu gehen und Vorräte einzukaufen. Ich erinnere mich an andere Ausgangssperren, die 40 Tage gedauert haben und während derer wir überhaupt nicht nach draußen durften. Aber selbst dann haben wir uns irgendwie durchgeschlagen und zum Beispiel Mehl, Milch und Eier mit unseren Nachbar*innen durchs Fenster getauscht. Die Menschen in Bethlehem sind unverwüstlich und die Mehrheit hier ist ruhig geblieben in dem Wissen, dass auch diese Krise vorübergeht.“

Während einige Umstände für die Menschen nicht neu sind, so handelt es sich doch um die erste Ausgangssperre, die die palästinensischen Behörden in enger Absprache mit Israel verhängten. Aber was bedeutet die aktuelle Situation für diejenigen, die durch alle Raster der Zuständigkeiten fallen? Die komplexe Aufteilung des Westjordanlands in die Regionen A, B und C hat eine Realität geschaffen, in der einige Gemeinden weder Gesundheitsversorgung noch Sozialleistungen erhalten, da keine der beiden Regierungen sich verantwortlich fühlt.

Palästinensische Frauen übernehmen Krisenmanagement

Etwa 6,5 Kilometer südlich von Bethlehem, im C-Gebiet des Westjordanlands, liegt das kleine Dorf Jub Al-Deep. Durch die umliegenden Siedlungen ist Jub Al-Deep von größeren palästinensischen Städten abgeschnitten. Das Dorf leidet regelmäßig unter gewalttätigen Auseinandersetzungen mit dem israelischen Militär und Siedler*innen sowie unter Abrissen von Häusern. Da die Ortschaft Teil des C-Gebiets ist, hat Israel die Kontrolle über die Sicherheit und die Landnutzung. Für jegliche Bauarbeiten benötigen die Einwohner*innen die Erlaubnis der israelischen Behörden, selbst für die Installation von Straßenbeleuchtung. In der Praxis sind solche Genehmigungen kaum zu bekommen.

Eine Gruppe von Frauen aus dem Dorf entschied sich, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Sie verhandelten mit dem zuständigen Gouverneur der palästinensischen Behörde und erreichten, dass Jub Al-Deep an die Elektrizitäts- und Wasserversorgung angeschlossen wurde. Sogar Solarzellen brachten sie ins Dorf. Die Organisation Taghyeer („Veränderung“), die palästinensische Bewegung für gewaltfreie Aktionen, brachte die Frauen im September 2019 mit dem forumZFD in Kontakt.

Fadia aus Jub Al-Deep und Tamar von der Organisation Taghyeer sprechen zur Dorfgemeinschaft über die Herausforderungen der Corona-Krise.

Im Rahmen eines Projekts zur Stärkung von Frauen im Westjordanland nahmen das forumZFD und Taghyeer die Zusammenarbeit mit den Einwohnerinnen auf. Schwerpunkt der Friedensarbeit sind die Stärkung der Gemeinschaft und die strategische Planung gewaltfreier Aktionen. Unter anderem planten die Frauen eine Kampagne, um Straßenbeleuchtung nach Jub Al-Deep zu bringen. Doch die Corona-Pandemie machte ihnen einen Strich durch die Rechnung.

Denn durch die Gesundheitskrise drängen nun andere Probleme in den Vordergrund. So wird der Großteil des Einkommens der Familien in Jub Al-Deep von den Männern erwirtschaftet, die in Israel als Tagelöhner in der Landwirtschaft oder im Baugewerbe arbeiten. Wegen der Abriegelung kommen sie nicht mehr über die Grenze und verlieren ihren Lebensunterhalt. Gefangen zwischen den israelischen und palästinensischen Behörden sowie illegalen israelischen Siedlungen ist das Dorf durch die Reisebeschränkungen von der Versorgung mit Lebensmitteln und Dingen des täglichen Bedarfs abgeschnitten.

„Die mobile Klinik kam erst einmal vorbei“

Fadia Al Wahsh, die Vorsitzende der Frauengesellschaft von Jub Al-Deep, berichtet, dass es die seit Langem bestehenden Probleme umso schwieriger machten, auf die neue Herausforderung durch das Coronavirus zu reagieren: „Wir sind eine kleine Gemeinschaft. Viele von uns haben noch immer keinen Zugang zu sozialen Medien oder Fernsehprogrammen, über die wir uns über die aktuelle Lage informieren könnten. Deshalb ist es schwierig, den Einwohner*innen zu vermitteln, warum alle zu Hause bleiben müssen. Wir haben auch keinen Zugang zu einer umfassenden Gesundheitsversorgung. Seit dem Ausbruch des Virus hat uns erst einmal eine mobile Klinik besucht. Letzte Woche wurde mein Sohn von einem giftigen Insekt gebissen und wir mussten ihn schnellstens zum Arzt bringen. Alle paar Kilometer wurden wir von den Behörden angehalten und mussten erklären, warum wir nicht zu Hause sind.“

Siham Fayad, Projektmanagerin beim forumZFD Jerusalem, stand in engem Kontakt mit den Frauen, als sich die Lage von Tag zu Tag verschlechterte. „Eine der Frauen hat sogar versucht, ihren Hochzeitsring zu verkaufen, um von dem Geld in Bethlehem Vorräte zu kaufen. Aber sie sind gar nicht bis in die Stadt gekommen“, sagt Siham.

Die starken Frauen aus Jub Al-Deep: Amerah, Rawand, Sameha, Siham (forumZFD), Fadia, Safa’ und Samar (v. l. n. r.).

Aufbauend auf seiner Expertise im Bereich „Gemeinschaften mobilisieren“ entschied das forumZFD, den Frauen aus Jub Al-Deep bei der Bewältigung der Pandemie zur Seite zu stehen. Fadia Al Wahsh aus Jub Al-Deep begrüßte die schnelle Reaktion: „Wir lieben unsere gemeinsame Arbeit mit Taghyeer und dem forumZFD und werden auch weiterhin unsere Vision für eine bessere und stärkere Gemeinschaft verfolgen. Aber in der aktuellen Situation liegen unsere Priorität und unsere Hoffnung darauf, diese gefährliche Zeit ohne Todesopfer zu überstehen.“

Üblicherweise liegt der Schwerpunkt des forumZFD nicht auf solchen Notfallmaßnahmen. Doch Projektmanagerin Siham erklärt, dass eine wahre Partnerschaft sich dadurch auszeichnet, sich an den Bedürfnissen der Menschen vor Ort zu orientieren: „In dieser Situation war es wichtig, die Frauen in ihrer Selbstbestimmung zu unterstützen. Wir arbeiten seit Langem daran, die Gemeinschaften zu stärken und vertrauensvolle Beziehungen zu Multiplikator*innen vor Ort aufzubauen. Da können wir die Frauen nicht erst ermuntern, selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen, nur um ihnen in einer solchen Notlage dann doch das Zepter aus der Hand zu nehmen. Sie wissen selbst, was gut für sie ist. Wir können sie nur darin unterstützen, ihre Fähigkeiten zu entfalten und so Kontrolle über ihr Leben und ihre Zukunft zu gewinnen.“

Projektmanagerin Siham im Homeoffice – ihre zwölfjährige Nichte Nour, die das Foto aufgenommen hat, hat Siham netterweise ihren Schreibtisch überlassen, weil hier die
Internetverbindung am besten ist.

Mithilfe des forumZFD haben die Frauen von Jub Al-Deep begonnen, Pakete mit Lebensmitteln und Hygieneartikeln zu packen und an die Familien im Dorf zu verteilen. Siham unterstützt sie aus ihrem Homeoffice in Jericho und spricht sich dabei eng mit ihrer Kollegin Tamar Hassassian von der Partnerorganisation Taghyeer ab. Tamar erzählt, dass sich auch die Bewegung für gewaltfreie Aktionen schnell auf die neue Situation eingestellt hat: „Jetzt haben wir Zeit, zu reflektieren und vorauszuplanen. Jeden Tag fallen uns neue und kreative Wege ein, wie wir mit unseren Partner*innen in Jub Al-Deep und unseren Aktivist*innen vor Ort in Kontakt bleiben können.“

Die politische Lage bleibt angespannt

Geschichten wie die der Gemeinde Jub Al-Deep zeigen, wie die schwierigen Umstände der Besatzung und der tief gespaltenen Gesellschaften in Israel und Palästina die Herausforderungen durch die aktuelle Corona-Krise noch verschärfen. Aber die Frauen aus Jub Al-Deep zeigen auch, wie widerstandsfähig, entschlossen und vereint die Menschen sind, wenn es darauf ankommt. Trotzdem schreitet die Besatzung auch in Zeiten von Corona weiter voran. Die Planungen für neue Siedlungen östlich von Jerusalem gehen ununterbrochen weiter. Spekulationen darüber, ob Israel eine Annexion des Westjordanlands mit Rückendeckung der US-Regierung unter Donald Trump planen könnte, verschärfen die angespannte Lage noch mehr. Es besteht die Sorge, dass die Corona-Krise die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit von der Besatzung ablenkt.

Die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, die Isolation und die mangelnde Selbstkontrolle werden in Palästina auch nach der Pandemie kein Ende haben. Was bleibt, ist die Hoffnung, dass durch die Krise und die damit einhergehenden weltweiten Einschränkungen eine größere Solidarität mit denjenigen entsteht, deren Ausgangssperre auch nach Corona nicht vorbei ist.

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