Die Explosion im Hafen von Beirut zerstörte große Teile der Stadt und war noch im 150 Kilometer weit entfernten Zypern zu spüren. Zum heutigen Tag sind bereits mehr als 200 Menschen umgekommen und etwa 30 Menschen gelten auch zehn Tage nach der Katastrophe noch als vermisst. Mehr als 6000 Menschen wurden zum Teil schwer verletzt und rund 300.000 Menschen haben zeitweise oder längerfristig ihre Häuser und Wohnungen verloren. Die Katastrophe trifft auf ein bereits durch zahlreiche Krisen gebeuteltes Land. In den 15 Jahre seit dem politischen Ende des Bürgerkrieges erlebte die Bevölkerung militärische Besatzungen und Auseinandersetzungen, eine langanhaltende Serie politischer Anschläge und Regierungskrisen sowie den ökonomischen Kollaps des Landes.
Das Team des forumZFD in Beirut hat Eindrücke aus den ersten Tagen nach der Katastrophe gesammelt.
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Die Nacht des 4. August 2020
Wenige Minuten nach der Explosion um 18:08 Uhr sind im ganzen Libanon alle Augen auf Beirut gerichtet. Es herrschen Verwirrung und Chaos in der Stadt. Keiner weiß, was genau passiert ist und was nun zu tun ist. Viele Menschen laufen aus den Häusern und erkennen das erste Ausmaß der Verwüstung: Häuser, Autos, ganze Straßenzüge sind zerstört. Tausende Verletzte strömen in Krankenhäuser, die zum Teil ebenfalls von der Explosion beschädigt wurden. Nachbarn helfen einander, wo sie können.
Die Straßen sind übersät mit Scherben. Das knirschende Geräusch von Glas auf Stein, von Glas auf Beton, von Glas auf Glas ist überall zu hören. In den ersten Minuten und Stunden nach der Explosion versuche alle ihre Nächsten zu finden. Es werden immer dieselben Fragen gestellt: Bist du verletzt? Bist du sicher? Wo warst du als es passiert ist? Was ist mit Freunden und Familie? Steht deine Wohnung noch? Innerhalb von Stunden strömt erste Hilfe nach Beirut, um Verletzte zu versorgen. Wessen Wohnung zerstört ist, der sucht Zuflucht bei Freunden und Familie außerhalb Beiruts; andere beginnen Glas zu entfernen und Türen notdürftig zu reparieren.
Die ersten Tage danach
Jeder und jede geht anders mit dem Schock um: Die Einen stürzen sich in erste Aufräumarbeiten; die Anderen sprechen mit Freunden, schweigen oder verfolgen die Nachrichten. Das ganze Ausmaß der Katastrophe zeichnet sich langsam ab. Viele Tote werden geborgen, tausende Menschen sind verletzt und Hunderte werden weiterhin vermisst. Ganze Stadtviertel in der Nähe des Hafens sind zerstört, Wohnungen unbewohnbar. Verloren gegangen sind auch wichtige Plätze des Austauschs und der Begegnung.
Die Menschen packen selbst an.
Es sind viele Menschen auf den Straßen, um anzupacken - ausgerüstet mit Handschuhen, Besen, Schaufeln, Säcken, Plastikplanen. Staatliche Hilfe ist nicht zu sehen, daher müssen die Menschen selbst die Initiative ergreifen, und sie kommen aus allen Ecken des Landes dafür nach Beirut. Spontane Freiwillige, zivilgesellschaftliche Organisationen, Jugendgruppen, Nachbarschaftsinitiativen und internationale Kräfte nehmen Aufräumarbeiten und Hilfe selbst in die Hand. Sie erfassen Hilfsbedarf, beginnen Reparaturarbeiten, leisten medizinische Unterstützung, eröffnen Suppenküchen. Sie entfernen Glas und Schutt aus beschädigten Häusern, sammeln und trennen das Material zur Wiederverwertung.
Proteste gegen Regierung und ein korruptes System
Bereits seit Oktober letzten Jahres treibt es die Menschen in Massen auf die Straße. Sie demonstrieren gegen die politische Elite und die systematische Korruption, die das Land zum Erliegen gebracht hat. Tage nach der Explosion und der anfänglichen Überforderung und Verzweiflung macht sich nun Fassungslosigkeit breit. Bei Demonstrationen fordern die Menschen Rechenschaft von den Verantwortlichen: dem gesamten politischen System. Die Wut über die Fahrlässigkeit und Arroganz der Eliten, die nach jetzigen Stand zu dem Unglück geführt haben, hat die Forderung nach weitreichendem politischem Wandel verstärkt.
Die Massenproteste der letzten Tage führten zwar zu einem Rücktritt der Regierung, aber es ist völlig offen, ob die Demonstrierenden den erhofften Wandel langfristig erreichen können. Als Reaktion auf die Explosion verhängte der Premierminister Hassan Diab den Ausnahmezustand, der am 13. August vom Parlament für zwei Wochen gebilligt wurde. Nun hat das Militär weitreichende Befugnisse, insbesondere um gegen Regierungsgegner vorzugehen. Während den Massenprotesten am letzten Wochenende kam es bereits zu unverhältnismäßiger staatlicher Gewalt gegenüber Demonstrierenden und Journalist*innen. Aktivist*innen aus der Zivilgesellschaft befürchten, dass der Ausnahmezustand dazu instrumentalisiert wird, den geforderten politischen Wandel zu unterdrücken.
Katastrophe in Beirut
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