Warum ich auch 2022 Pazifistin geblieben bin

Margot Käßmann erörtert ihre pazifistische Position, die sie auch zur aktuellen Zeit vertritt.

Margot Käßmann
© Jens Schulze, forumZFD

Selten wurde Pazifismus so massiv diffamiert wie im Jahr 2022. Das sei eine unverantwortliche Zuschauerposition, heißt es. Sascha Lobo spricht von „Lumpenpazifisten“. Der FDP-Politiker Graf Lambsdorff hat Teilnehmende an Friedensdemonstrationen zu Ostern als „fünfte Kolonne Wladimir Putins“ bezeichnet. Und ja, auch das Argument, sich fein rauszuhalten oder „wohlstandsverwöhnt“ (Roderich Kiesewetter) zu sein, kommt immer wieder. Innerkirchlich wird Pazifistinnen und Pazifisten vorgehalten, sie würden „Ponyhoftheologie“ betreiben. Manchmal frage ich mich, woher diese hohe Aggression kommt. Würden diese Protagonisten denn in irgendeiner Weise befriedet sein, wenn nun alle das hohe Lied der Waffen singen? Was ist das überhaupt für ein Verständnis von Demokratie, wenn nur noch eine Einheitsmeinung akzeptabel scheint und alle kritischen Einwürfe gleichgeschaltet werden sollen?

Ich bin trotz heftiger Angriffe in Diskussionen oder auch per Mail bei meiner pazifistischen Haltung geblieben. Anfangs habe ich sie noch bei Talkshows vertreten, aber nachdem ich erlebt habe, dass ich lediglich als diejenige eingeladen werde, an deren vermeintlich absurder Haltung sich die anderen geladenen Gäste empört abarbeiten können, habe ich keine weiteren Zusagen gegeben. Allenfalls habe ich mich auf 1:1-Formate wie Spiegel deep dive oder Freitag Salon u.Ä. eingelassen, weil ich dann den Eindruck hatte, meine Position zumindest darlegen zu können.

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Sie hat drei Gründe. Zum einen fühle ich mich als Christin der Botschaft Jesu verpflichtet: Selig sind, die Frieden stiften. Steck das Schwert an seinen Ort. Liebet Eure Feinde. Martin Luther King hat einmal gesagt, Letzteres sei das Schwerste, das Jesus denen, die ihm nachfolgen wollen, hinterlassen hat. Und das stimmt auch bis heute. Es bleibt eine Provokation. Einmal wurde ich gefragt, was Jesus Terroristen sagen würde. Ich habe erklärt: „Wahrscheinlich dasselbe wie vor 2000 Jahren: Liebet eure Feinde, bittet für die, die euch verfolgen.“ Die Reaktion war ein Shitstorm. Dabei habe ich Jesus zitiert. Mir hat das gezeigt, wie weichgespült die christliche Botschaft inzwischen daherkommt.

Zum anderen rührt meine Haltung aus den familiären Erfahrungen. Mein Vater war 18 Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg begann – er wurde sofort zur militärischen Ausbildung beordert und musste als Soldat „dienen“, bis er mit 25 aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft entlassen wurde. Meine Mutter war Krankenschwester in Berlin, hat die Bombennächte erlebt, wurde nach Rügen evakuiert, floh nach Dänemark und musste dort zwei Jahre in einem Internierungslager bleiben. Ihre Mutter und ihre Schwester waren allein in Köslin, bis sie 1946 nach Hessen aufbrechen konnten. Mein Großvater väterlicherseits und meine Tante starben bei Bombenangriffen auf Hagen. Mein Großvater mütterlicherseits wurde nach Sibirien verschleppt und starb auf dem Transport. Dass Krieg mit allen Mitteln zu verhindern ist, war bei uns zu Hause unumstritten.

Schließlich habe ich es als Bürgerin dieses Landes gerade auch angesichts unserer Geschichte immer für richtig gehalten, Rüstungsexporte abzulehnen oder zumindest so zu beschränken, dass keine Waffen in Krisen- oder gar Kriegsgebiete geliefert werden. Das war auch lange Zeit Konsens. Jetzt wird erklärt, unsere Freiheit werde – diesmal nicht am Hindukusch, sondern in der Ukraine – verteidigt. Wer die Lieferung schwerer Waffen ablehne, mache sich schuldig. Dessen bin ich mir übrigens sehr bewusst. Wer eine pazifistische Position einnimmt, weiß sehr genau, dass er oder sie dadurch schuldig werden kann. Aber das gilt ebenso für diejenigen, die Waffenlieferungen fordern. Denn durch diese Waffen werden vielleicht Menschen geschützt aber auf jeden Fall Menschen sterben.

Wenn Pazifisten gesagt wird, sie sollten mit ihrer Meinung doch in die Ukraine gehen und ihren Pazifismus ausleben, halte ich dagegen, dass auch diejenigen, die so engagiert aufzählen, welche schweren Waffen Deutschland unbedingt zu liefern habe, diese Waffen nicht ganz persönlich selbst einsetzen werden. Auch sie schauen am Ende dem Elend des Krieges zu, das durch weitere Waffen verlängert wird. Erich Maria Remarque schrieb: „Ich dachte immer, jeder Mensch sei gegen den Krieg, bis ich herausfand, dass es welche gibt, die dafür sind, besonders die, die nicht hingehen müssen.“

Pazifismus heißt ja nicht, passiv zu sein. Viele unterstützen Geflüchtete. Es gibt humanitäre Einsätze in Kriegsgebieten und auch soziale Verteidigungsstrategien. Vor allem aber geht es um das langfristige Ziel, Zukunft nicht durch mehr Rüstung, sondern durch Abrüstung lebenswert zu machen. Was wäre, wenn die Ideen zum Pazifismus obsolet, die Stimmen für Gewaltlosigkeit verstummen würden, unsere Vorstellungskraft vom Frieden, der mehr ist als kein Krieg, uns gänzlich abhandenkäme? Es wäre eine durchmilitarisierte Gesellschaft, die an das Deutsche Kaiserreich erinnert, der schon Bertha von Suttner den Spiegel vorhielt mit ihrem weltberühmten Roman „Die Waffen nieder“.

© pixabay

Interessant ist für mich, dass mir in den Debatten immer wieder das Thema Vergewaltigung entgegengeschleudert wird. Da werden Frauen und Kinder vergewaltigt, da muss man doch Waffen liefern. Ich war einige Jahre Präsidentin der KDV, also der Organisationen, die Kriegsdienstverweigerer beraten haben, bevor die Wehrpflicht in Deutschland ausgesetzt wurde. In den Gewissensprüfungen der frühen Jahre gab es immer wieder die Frage: „Wenn ihre Freundin neben ihnen vergewaltigt wird, würden Sie dann nicht zur Waffe greifen?“ Sie ist natürlich suggestiv. Aber die Antwort kann nur sein: „Ich weiß es nicht.“ Niemand kann im Voraus sagen, wie er oder sie in einer bestimmten Situation reagiert. Aber die Haltung, die Waffe nicht zücken zu wollen, die muss doch respektiert werden.

In Deutschland werden laut Kriminalstatistik täglich mehr als zwanzig Fälle von Vergewaltigung angezeigt. Die Dunkelziffer ist riesig. Das aber ist selten Thema. Sollten alle diese Frauen oder ihre Familienmitglieder Waffen in die Hand bekommen, um den Vergewaltiger zu ermorden? Da wird mit Emotionen hantiert. Natürlich ist jede Vergewaltigung grauenvoll und furchtbar. Aber im Krieg ist Vergewaltigung nicht Ausnahme, sondern entsetzliche Regel, ja wird als Kriegswaffe eingesetzt. Es geht um grauenvolles männliches Machtgebaren, das demütigen und erniedrigen will. Das sollte nicht missbraucht werden, um Waffenlieferungen zu rechtfertigen.

Stehe ich nicht im Gegensatz zu „meiner Kirche“, werde ich gefragt. Es hat in der Geschichte der Kirchen immer eine Mehrheitsmeinung gegeben, die den Einsatz militärischer Mittel gerade auch zur Selbstverteidigung legitimiert, aber Regeln formulieren will, sie zu begrenzen. Die „Lehre vom gerechten Krieg“ oder inzwischen „Lehre vom gerechten Frieden“ zeugen davon. Und es gab stets eine Minderheit, die eine pazifistische Tradition vertreten hat, weil sie so ein Zeugnis von der Botschaft des Jesus von Nazareth abgeben will. Sich gegenseitig in diesen Haltungen zu tolerieren – also zu ertragen, dass es keine von irgendjemandem vorgegebene bzw. reklamierte Einheitstheologie gibt –, ist für theologische Debatten letzten Endes eine Frage des Respekts und der Freiheit. Und im Übrigen gehört es auch zur eigenen Demut, stets zu wissen, dass du irren kannst.

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Ich persönlich bin überzeugt, dass die Theologie ebenso wie die Kirche in die Irre gegangen sind, wann immer sie Gewalt legitimiert haben. Jesus Christus war kein Revolutionär mit der Waffe in der Hand. Er hat Frieden gepredigt, nicht Krieg, Feindesliebe, nicht Hass. Theologie hat zu fragen, wie sich das umsetzt im jeweiligen Kontext. Sie sollte sich nicht dazu missbrauchen lassen, Kriege und Waffengänge zu legitimieren sondern sich querstellen, die Friedensfahne hochhalten und dem Gerede von „Blutzoll“, „Heldentum“ und „Tapferkeit“ die Menschlichkeit und die Würde jedes Menschen entgegensetzen.

Krieg ist für mich nicht Ultima Ratio, weil Ratio Vernunft heißt. Und im Krieg setzt die Vernunft aus. Da vergewaltigen serbische Männer ihre bosnischen Nachbarinnen. Da foltern russische Soldaten in Butscha wehrlose Zivilisten zu Tode. Da wird mit der Wilhelm Gustloff ein Schiff mit 9.000 Flüchtlingen an Bord versenkt. Da metzeln Hutu Tutsi in einer Kirche nieder. Da lassen argentinische Generäle Menschen verschwinden. Da werden in Mosambik Kinder zu Soldaten gemacht und dazu gezwungen, ihre eigenen Eltern zu töten, weil sie dann so besonders grausame Kämpfer werden. Da verhungern und erfrieren in und um Stalingrad Hunderttausende. Krieg ist das Ende aller Vernunft. Krieg ist nicht die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, sondern das Ende der Politik.

Ich frage mich, warum der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine eine Zeitenwende ist. Weil der Krieg uns so nahe an die Grenze kommt? Nach einer Untersuchung des Heidelberger Instituts für Internationale Konfliktforschung gab es im Jahr 2021 20 Kriege (Beispiele sind Syrien und Jemen), dazu 20 begrenzte Kriege (Beispiele sind Israel oder Äthiopien).

Dazu kommen die unerklärten Kriege, also 204 bewaffnete Konflikte, die teilweise als hochgewaltsam eingestuft werden. Da kämpfen marodierende Banden, Verhandlungsparteien sind nicht mehr auszumachen. Das Grauen der Zivilbevölkerung aber ist umso größer. Und: Das Völkerrecht wird immer wieder gebrochen. Gegen all das stehen Pazifistinnen und Pazifisten auf und für globale Abrüstung ein.

Mir macht Sorge, dass jetzt 100 Milliarden Euro zusätzlich zum Wehretat von 52 Milliarden in Rüstung investiert werden sollen. Wenn ich an meine sieben Enkelkinder denke, ist das doch keine Investition in deren Zukunft. Das wäre eine Investition zur Bekämpfung der Klimakrise, für Bildung und Entwicklung.

DR. MARGOT KÄßMANN,
Jahrgang 1958, studierte Theologie in Tübingen, Edinburgh, Göttingen und Marburg. Nach ihrer Promotion und der Tätigkeit als Pfarrerin und später als Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentages war sie Landesbischöfin der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers. Von 2009 bis 2010 war sie Vorsitzende des Rates der EKD, von April 2012 bis zu ihrer Pensionierung „Botschafterin der EKD für das Reformationsjubiläum“ 2017.