Sara, vielen Dank, dass du dir die Zeit nimmst mit uns zu sprechen. Worum geht es bei der Lebanon Debating Society?
Mit der Initiative wollen wir eine vereinigende, transparente und neutrale Plattform schaffen und die Menschen ermutigen, offen über gesellschaftlich relevante Themen zu diskutieren. Wir möchten ihnen die Möglichkeit geben zu lernen, wie sie die damit verbundenen Herausforderungen angehen und meistern können. Dabei greifen wir auf bereits existierende politische Ideen zurück, diskutieren diese aber nicht nur einseitig, sondern schauen auch auf andere Lösungsansätze und die dahinterstehenden Annahmen und Narrative. Wir hoffen, dass wir dadurch eine neue politische Kultur fördern. Die Zeit ist reif für einen Wandel in der Art und Weise, wie wir den politischen Diskurs führen und wie Politik in diesem Land gemacht wird. Und eine der Möglichkeiten, dies zu erreichen, ist die Kunst des Diskutierens.
Wenn Du sagst, „Die Zeit ist reif“, bedeutet das, dass du bereits Veränderungen im Libanon wahrnimmst?
Ja, definitiv! Überall tauchen Diskussionen auf. Es ist Zeit für eine Bewegung, die diesen radikalen Wandel vorantreibt. Wir sind aufgeregt, da unsere Initiative eine landesweite ist: Das Ziel ist es, einen nationalen Debattierwettbewerb auszurichten. Die Ausschreibung läuft aktuell noch. Wir suchen 16 Coaches und 32 Teilnehmer*innen mit verschiedenen Hintergründen und Denkweisen, die sich an den Debatten beteiligen möchten. Sie kommen zusammen und durchlaufen eine Ausbildung, bei der sie wesentliche Fähigkeiten des Debattierens, des aktiven Zuhörens und der Reflektion der eigenen Haltung erlernen.
Dies in Form eines Wettbewerbs durchzuführen hat den Zweck, die Teilnehmenden und das Publikum zu begeistern. Es ist ein bisschen wie „Arab’s got Talent“ (Anm. d. Red.: Talentshow), in der man einer Person durch eine Reihe von Shows folgt. Es ist wie eine Talentshow für Debatten, bei der jede*r zuschauen und abstimmen kann, welche Themen diskutiert werden sollen und welche*r Teilnehmende besonders überzeugend war. Wir hoffen, die gesamte Community bei diesem Event zusammenzubringen. Wir sind überzeugt, dass ein nationaler Wettbewerb, der live übertragen wird, mehr dazu beitragen kann als eine Publikation oder eine Konferenz.
Bevor wir tiefer in die Initiative eintauchen, werfen wir zunächst einen Blick darauf, was aktuell im Libanon passiert. Wie ist die aktuelle Situation im Land, und wie ist sie aus deiner Sicht zustande gekommen?
Meiner Meinung nach stecken wir seit Ende des Bürgerkrieges, also seit 30 Jahren, in einer Geisteshaltung des „Wir gegen sie“ fest. Diese Angst vor den Anderen ist die treibende Kraft hinter vielen politischen Entscheidungen. Aktuell sehen wir, wohin uns diese Haltung bringt. Wir befinden uns mitten in einer verheerenden Finanzkrise, die selbst die Situation kurz nach dem Bürgerkrieg übertrifft. Letztes Jahr gab es dann die Explosion, die Beirut völlig verwüstet hat. Es war für uns alle traumatisierend.
Aktuell herrscht Chaos: Es mangelt an Strom, Rohstoffen, Wasser und medizinischer Versorgung. Es ist emotional schwierig mitzuerleben, was hier passiert. Frustration, Wut, Verzweiflung und Schmerz liegen in der Luft. Es muss sich etwas ändern. Es ist zwar beängstigend, diesen Prozess mitzuerleben, aber wir werden nicht aufgeben – wir als Menschen sind in der Lage, diese Veränderungsprozesse durchzustehen. In gewisser Weise sind wir alle Teil des Status quo, denn wir alle halten ihn am Leben, das müssen wir uns klarmachen. Es muss sich also viel ändern, sowohl in uns selbst als auch um uns herum. Diese Veränderungen müssen langsam und nachhaltig sein. Schnelle Veränderungen halten nicht lange an.
Ein zentrales Ziel der Lebanon Debating Society ist es, eine neue Kultur des politischen Diskurses zu pflegen. Angesichts dessen, was derzeit im Libanon geschieht: Was macht das Debattieren aktuell so relevant?
Seit der Revolution erlebt man im Libanon eine Menge Hass. Natürlich wusste ich das Hass existiert, aber er ist in unserem Alltag präsenter denn je zuvor. Ich konnte nicht glauben, dass die Menschen so schlecht miteinander umgehen. Jede*r versucht zu beweisen, dass er oder sie schlauer, größer oder besser ist, indem andere abgewertet werden. Ich hatte immer den Eindruck, dass uns diese Art des Miteinanders nicht weiterbringt. Das ist nicht die Zukunft, die ich aufbauen und an der ich teilhaben möchte.
Die Menschen sind wütend, und sie haben allen Grund dazu. Die Wut hilft, Gemeinschaften zu aufzurütteln und die Menschen auf die Straße zu bringen. Aber ich glaube nicht, dass sie uns weiterbringen kann. Wenn wir langfristige Veränderungen wollen, brauchen wir andere Werkzeuge. Wir müssen unsere Ziele und Strategien sinnvoll definieren und einen Weg finden, Menschen ins Gespräch zu bringen. Wir müssen aufhören, uns gegenseitig zu verteufeln. Wir müssen aufhören zu denken, dass alles großartig wird, wenn wir eine bestimmte Gruppe aus dem Land jagen.
Ich glaube, wir müssen anfangen, die Art und Weise des Miteinanders zu ändern, aber vor allem müssen wir lernen anderen richtig zuzuhören. Gegenwärtig ist der politische Diskurs die Kunst der Beleidigung oder die Kunst des Ausweichens. Wir wollen es zur Kunst machen, Probleme anzugehen und sie zu lösen.
Bei den Wettbewerben werden auch kontroverse politische Themen angesprochen. Hast du keine Angst, dass die Diskussion hitzig wird und die Gesellschaft weiter spaltet?
Debattieren als Konzept ist ein Format, das auch spalten kann. Es ist unsere Aufgabe, das heikle Gleichgewicht zwischen Wettbewerb und Dialogprozess zu wahren. Wenn man sich online einige Debattierwettbewerbe von Universitäten ansieht, merkt man schnell, dass es ziemlich aggressiv werden kann. Das möchten wir verhindern. Zu den Bewertungskriterien zählt unter anderem auch, wie gut die Teilnehmenden einander zuhören, die Anliegen und Argumente Anderer einbeziehen und diese ernst nehmen. Bei dem Wettbewerb geht es zwar darum zu gewinnen, aber dies zu tun, indem man die Argumente der anderen Seite annimmt und eine neue Idee kreiert, die tatsächlich Teil einer integrativen Lösung sein könnte.
Wir veranstalten die Debatten in der Öffentlichkeit, weil wir hoffen, dass sich diese Methode verbreitet. Wir haben uns 30 Jahre lang angeschaut, wie sich Politiker*innen im Fernsehen anschreien. Wie hätten wir es denn anders lernen sollen? Wir zeigen den Menschen, wie ein politischer Diskurs auch aussehen kann und hoffen, dass diese Art und Weise übernommen wird. Es soll beim Diskutieren nicht nur darum gehen die eigene Meinung zu untermauern, sondern auch um das gegenseitige Verständnis und die Frage, warum man auf entgegengesetzten Seiten gelandet ist. Sobald wir das verstehen, können wir anfangen Gemeinsamkeiten zu finden und unsere gemeinsame Zukunft neu zu denken.
Wie bist du mit der Lebanon Debating Society in Kontakt gekommen?
Ich habe sechs Jahre lang im Bildungsbereich gearbeitet. Wie viele andere Lehrkräfte auch litt ich an Burn-Out. Daher entschied ich mich, auf meine Neugierde über Konflikte zurückzukommen und mich damit zu beschäftigen, wie man diese Konflikte konstruktiv lösen kann. Ich besuchte Workshops zum Beispiel zu gewaltfreier Kommunikation und zur sogenannten Lewis-Methode der tiefgreifenden Demokratie. So lernte ich, wie man Gruppen in Konflikten unterstützt und wie wichtig Konflikte für die persönliche Entwicklung und für Beziehungen sind. Ich gründete eine Firma namens „L3b“, was auf Arabisch „spielen“ bedeutet. Wir nutzen die Kunst und Wissenschaft des Spielens und betrachten, wie Teams im Umgang miteinander Feedback geben, Spannungen erkennen, Kreativität entfesseln und Werte artikulieren.
Ich engagiere mich außerdem ehrenamtlich mit dem Ziel, Gemeinschaften aufzubauen und Menschen zusammenzubringen, indem ich „Wohnzimmer-Gespräche“ veranstalte. Ich organisierte viele TEDx-Veranstaltungen (Anm. d. Red.: ein weltweites Konferenzformat für inspirierende Ideen). Bei einem TEDx wählen wir jedes Mal ein anderes Thema aus und und bringen Leute dazu, sich zu diesem Thema auszutauschen. Daher war ich immer schon daran interessiert, Räume zu schaffen, Menschen eine Austauschplattform zu bieten, um gemeinsam neue Wege zu entdecken, während sie miteinander interagieren.
Als man mich bat, der Lebanon Debating Society beizutreten, wollte ich eigentlich ablehnen. Seit meinem Burn-Out bin ich mir bewusst geworden, wie viel Arbeit ich mir selbst zumuten kann. Dann geschah die Explosion. Ich fühlte mich traumatisiert und verwirrt und es dauerte Wochen, bis ich mich erholt hatte. Es war eine schwierige Phase, aber die Initiative hatte ich noch im Kopf. Ich dachte darüber nach, wie wir eine Plattform schaffen könnten, um eine funktionierende Diskussionskultur zu fördern. Bei diesem Projekt mitmachen zu können war mir sehr wichtig, und dafür bin ich sehr dankbar.
Vielen Dank für das Interview, Sara!