Amal, warum hast du dich Standing Together angeschlossen?
Amal Ghawi: Ich habe mich Standing Together angeschlossen, weil ich mich nach Beginn des Krieges nirgendwo sicher gefühlt habe, meine Meinung zu sagen. Ich fand keinen Ort, der in diesen dunklen Zeiten zu Frieden und Hoffnung aufrief. Bei Standing Together habe ich diesen Ort gefunden. Es ist ein Ort, an dem die Menschen gleichberechtigt sind, und das ist heutzutage eine ziemlich radikale Idee. Man soll sich für eine Seite entscheiden. Für wen stehst du? Israelis oder Palästinenser*innen? Und wir stehen für alle. Wir setzen uns für die Menschen ein. Frieden, soziale Gerechtigkeit und Gleichheit, das sind die wichtigsten Dinge, über die wir die ganze Zeit sprechen.
Wie sind diese Werte miteinander verknüpft, Itamar?
Itamar Avneri: Wir werden nie wirklich gleichberechtigt sein, wenn wir nicht für soziale Gerechtigkeit und auch für Umweltgerechtigkeit sorgen. Aber wir müssen auch bedenken, dass die Situation in Israel und Palästina sehr kompliziert ist. Es gibt Israel und es gibt die palästinensischen Gebiete, von denen wir hoffen, dass sie ein unabhängiger Staat werden, der Staat Palästina. Aber es gibt trotzdem auch über zwei Millionen Palästinenser*innen in Israel. Alle diese Dinge kann man also nicht wirklich voneinander trennen. Wenn wir also eine Vision für alle Menschen haben, wie Amal sagt, dann müssen wir sowohl für den israelisch-palästinensischen Frieden als auch für Gleichheit und soziale Gerechtigkeit innerhalb Israels und für alle Menschen arbeiten.
Amal Ghawi arbeitet als Journalistin. Sie berichtet über die Geschichten und Herausforderungen von Palästinenser*innen mit israelischer Staatsangehörigkeit. Sie schloss sich Standing Together nach Beginn des Krieges an. Ihr Name bedeutet „Hoffnung“ auf Arabisch.
Itamar Avneri ist Gründungsmitglied von Standing Together und des Leitungskreises der Bewegung. Itamar ist derzeit auch Mitglied des Stadtrats der Kommune Tel Aviv-Jaffa.
Könnt ihr uns die Veränderungen erläutern, die die Bewegung seit Beginn des Krieges durchlaufen hat?
Amal Ghawi: Es ist viel passiert, und ich glaube, dass das jeder spürt. Wir hören von den Katastrophen, die im Gazastreifen geschehen, und man hört auch von den Geiseln, die getötet wurden. Es ist zu viel Schmerz, um ihn zu ertragen. Aber es ist so wichtig für mich, dass wir aktiv sind. Ich kann für mich sagen: Wenn ich nicht auf der Seite der Menschen stünde, die etwas tun, die aktiv sind, wäre ich deprimiert über das, was um uns herum geschieht. Das Einzige, was uns hilft, weiterzumachen und die Dinge zu verändern, ist das Tun selbst. Das macht die Bewegung wirklich zu etwas ganz Besonderem. Wenn die Leute mitmachen, verbinden sie sich mit ihrem eigenen “Warum?” und bekommen mehr Hoffnung. Wir hatten riesige Demonstrationen seit der Krieg begonnen hat.
Unsere letzte Kampagne, die immer noch läuft, die Hilfskampagne für Gaza, ist die größte Demonstration. Wir nennen es gerne eine Demonstration, weil die Leute nicht nur kommen, um Zucker oder Lebensmittel zu spenden. Sie kommen, weil sie spüren, dass diese Kampagne ein Ort ist um auszudrücken “Ich bin gegen das, was da passiert, ich bin gegen diesen Krieg, ich stehe auf der Seite der Menschlichkeit, der Menschen, der Palästinenser, auch in Gaza.”
Seit Beginn des Krieges wurde die palästinensische Gemeinschaft in Israel vom System zum Schweigen gebracht. Mehr als 150 Menschen wurden verhaftet, weil sie öffentlich Solidarität mit den Menschen in Gaza gezeigt haben, wobei die Tatsache ignoriert wurde, dass wir auch Palästinenser und Menschen sind und ein Mitspracherecht bei den Geschehnissen haben.
Was ist deine Perspektive, Itamar?
Itamar Avneri: Unmittelbar nach dem 7. Oktober war es das Ziel, Leben zu retten. Aber eines wussten wir mit Sicherheit. Die Minister in unserer Regierung, Itamar Ben-Gvir, Bezalel Smotrich: Sie würden versuchen, Gewalt in den gemischten Städten in Israel zu schüren. Also haben wir die jüdisch-palästinensischen Solidaritätswachen in den gemischten Städten aufgestellt, um die Atmosphäre zu deeskalieren, um die Menschen daran zu erinnern, dass dies gemeinsame Städte in einem gemeinsamen Land sind. Und das ist uns gelungen, es gab keine Gewalt innerhalb Israels, was für mich überraschend war, weil es vorher schon Gewalt gegeben hatte. Und dann begannen wir, zu einem Waffenstillstandsabkommen aufzurufen, das nicht nur die Geiseln zurückbringen, sondern auch das Töten und den schrecklichen Krieg im Gazastreifen beenden würde. Und genau das versuchen wir jetzt auch zu tun.
Wir versuchen, unsere Gesellschaft davon zu überzeugen, dass wir nicht nur diesen Krieg beenden müssen. Denn selbst wenn dieser Krieg zu Ende wäre, werden wir in einem Jahr einen neuen Krieg haben, oder etwas Ähnliches, wenn wir den politischen Willen nicht ändern. Und so sprechen wir auch jetzt, wo es sehr schwierig ist, über die Beendigung der Besatzung.
Ich denke, das ist alles Teil dieser historischen Mission, Leben zu retten, jetzt im Gazastreifen, im Westjordanland und auch in Israel, aber auch um zukünftige Leben zu retten.
Ich tue das auch, weil dies meine Heimat ist. Ich möchte mir eine Zukunft vorstellen können und dann auf sie hinarbeiten und sie aufbauen. Das ist eine sehr persönliche Sache für mich und ich denke für alle bei Standing Together.
Wir sind noch nicht die Mehrheit, aber es gibt immer mehr Menschen, die verstehen, dass dieser Krieg zu nichts führt und dass wir ihn beenden müssen. Auf eine Art glaube ich, dass es hier eine Chance gibt, unsere Realität in Israel und Palästina wirklich zum Besseren zu verändern.
Gab es eine Aktion oder einen Moment im letzten Jahr, der euch besonders in Erinnerung geblieben ist?
Amal Ghawi: Die offensichtliche Antwort ist die Hilfskampagne für Gaza. Bei dieser Kampagne habe ich Hunderte von Kindern und Jugendlichen getroffen, die mitmachen wollten und sich als wichtige Mitglieder der Gesellschaft fühlten. Sie fühlten sich für die Zukunft verantwortlich. Das war wirklich rührend und interessant zu beobachten, und ich war unglaublich stolz darauf. Wisst ihr, diese Bewegung wurde 2015 von ganz wenigen Leuten ins Leben gerufen und hat Teenager dazu gebracht, sich freiwillig zu engagieren und ihre Stimmen zu erheben. Sie kamen nicht nur, um zu helfen und zu organisieren, sondern auch, um ein Zeichen der Solidarität zu setzen und buchstäblich zusammenzustehen.
Itamar Avneri: Drei Wochen nach dem 7. Oktober war ich in Ramle, einer kleinen, gemischt jüdisch-arabischen Stadt etwas außerhalb von Tel Aviv, bei einem Treffen der jüdisch-palästinensischen Solidaritätsgarde. Es waren 30 Leute da, etwa die Hälfte Palästinenser*innen, die Hälfte Jüd*innen, alle Bürger*innen Israels. Zwei Frauen weinten, weinten und weinten während des ganzen Gesprächs.
Schließlich fragten wir sie: "Warum weint ihr? Was ist passiert?". Die erste von ihnen war Palästinenserin, und sie weinte, weil sie erst am Vortag erfahren hatte, dass fünf ihrer Familienmitglieder in Gaza durch israelische Bombenangriffe getötet worden waren.
Sie war traumatisiert und trauerte, aber sie hatte sich entschieden, trotzdem zu dem Treffen zu kommen. Sie hätte alle Gründe der Welt gehabt, nicht dabei zu sein. Sie hatte alle Gründe der Welt, nicht nur die israelische Regierung zu hassen, die ich auch hasse, sondern alle jüdischen Israelis, und nicht an eine gemeinsame Zukunft zu glauben. Aber sie entschied sich zu kommen.
Die andere Frau war Jüdin und weinte, weil fünf Tage zuvor eine Rakete aus dem Gazastreifen in ihrem Haus eingeschlagen war, und sie hatte keine Wand mehr, ihr Haus war einfach offen. Auch sie hatte alle Gründe, nicht zu kommen. Sie hatte alle Gründe zu sagen: Ich hasse alle Palästinenser*innen. Aber sie entschied sich zu kommen.
Und ich saß da und dachte: Mein Gott, wenn diese beiden Frauen es schaffen, können wir es alle schaffen.
Werdet ihr wegen eures Engagements auch kritisiert oder sogar bedroht und wie geht ihr damit um?
Itamar Avneri: Es ist wirklich nicht einfach, wir haben viele Auseinandersetzungen innerhalb meiner Familie. Ich erhalte Todesdrohungen, Beschimpfungen und andere Dinge auf Social Media. Aber bei Standing Together treffe ich Menschen, die genau wie ich an Frieden und Gleichberechtigung glauben, und an die Zusammenarbeit. Ich denke, das ist das Geheimnis, um nicht allein zu sein.
Amal Ghawi: Es ist absurd, dass der Ruf nach Frieden und der Ruf nach Leben als etwas Schlechtes angesehen wird, während die Leute immer mehr Krieg und Tod fordern. Wir sind diejenigen, die kritisiert werden, weil wir wollen, dass die Menschen leben. Ich werde auch mit Kommentaren konfrontiert, einige von der israelischen Seite: "Wir nehmen dir die Staatsbürgerschaft weg" oder "Wenn du über die Menschen in Gaza sprichst, geh doch dort hin und lebe da." Die Kommentare, die mich anfangs wirklich verletzt haben, kamen von Menschen aus der arabischen Welt. Leute, die die Situation hier nicht verstehen und mich dann als Normalisiererin bezeichnen, als jemanden, die nicht zu ihrem Volk steht, nur weil ich wirklich nicht will, dass jemand stirbt.
Wie gehe ich damit um? Nun, ich bin Fußballerin. Ein Spieler hat einmal gesagt: "Lass dir von niemandem, der nicht in deinen Schuhen steckt, vorschreiben, wie du sie zu binden hast". Also werde ich mir von niemandem, der nicht in meinen Schuhen steckt, sagen lassen, wie ich sie binden soll. Wisst ihr, ich bin hier. Ich lebe in dieser Realität, und ich will einfach nicht, dass meine Schwestern und andere Schwestern auf der Welt sterben.
Die Mehrheit der Menschen in Israel scheint die Geschehnisse in Gaza zu ignorieren, sie schließen sich eurem Aufruf zu einem Waffenstillstand nicht an.
Amal Ghawi: Ich glaube, zu Beginn des Krieges haben die Medien überhaupt nicht darüber berichtet, was in Gaza passiert. Aber wir haben ja die sozialen Medien, und immer mehr Menschen sehen dort, was vor sich geht.
Fakt ist bloß, dass die Regierung selbst sagt: "Oh, seht mal, was die Hamas diesen Leuten antut, wir schicken Lastwagen, aber die Hamas gibt es (die Hilfsgüter) den Leuten nicht". Es wird immer mit den Informationen gespielt und die Regierung gibt jemand anderem die Schuld. Wenn man all die Videos von dem Völkermord sieht, der an den Menschen in Gaza verübt wird, all das Töten und Verhungern, die Krankheiten... das ist überwältigend. Ich denke, dass jeder Mensch, der ein Herz hat, sagen kann, dass das nicht in Ordnung ist, dass die Geschehnisse jenseits dessen sind, was man ertragen kann.
Itamar Avneri: Die überwältigende Mehrheit der jüdischen Menschen in Israel hat keine Ahnung, was in Gaza vor sich geht. Unsere hebräischen Medien berichten nicht darüber, was in Gaza passiert. Und wenn die Menschen Fakten über die Situation in Gaza erfahren, reagieren sie mit Verweigerung. Amal erwähnte die Kampagne gegen die Hungersnot. Viele der Kommentare, die wir derzeit in den sozialen Medien erhalten, lauten: "Wovon redet ihr? Es gibt so viel Essen in Gaza”, "Denen geht es sehr gut, es ist nichts passiert". Es ist wirklich schwer, die Menschen in der jüdisch-israelischen Gesellschaft dazu zu bringen, über den Krieg und den Waffenstillstand zu sprechen. Und ich denke, dass es für meine Gesellschaft sehr schwer sein wird, nach dem Ende des Krieges zur Kenntnis zu nehmen, was wir in Gaza getan haben. Das wird katastrophal für unsere Gesellschaft sein.
Ihr kommt im Dezember nach Deutschland, welche Botschaft bringt ihr mit?
Itamar Avneri: Immer wenn ich mit Menschen aus dem Ausland spreche, bitte ich sie, Druck auf ihre Regierung auszuüben, um Druck auf unsere Regierung auszuüben, sie vielleicht sogar zu sanktionieren, aber dabei auch mit der jüdisch-israelischen Öffentlichkeit zu sprechen. Ich würde es begrüßen, wenn euer Kanzler der israelischen Gesellschaft sagen würde: "Hört zu, wir werden alles tun, was wir können, um eure Regierung dazu zu bringen, diesen Angriff auf Gaza zu stoppen, und wir tun das aus Solidarität mit den Menschen in Gaza, aber auch aus Solidarität mit euch".
Amal Ghawi: Ich möchte den Menschen vermitteln, was hier aus der Sicht einer in Israel lebenden Palästinenserin geschieht. Womit bin ich konfrontiert? Wie sehe ich die Dinge? Ich möchte sagen, dass es nicht schwarz oder weiß ist, man kann für beide Seiten sein, man kann gegen den Tod auf beiden Seiten sein. Und ich denke, das ist die Botschaft, die ich zu vermitteln versuche.
Das Gespräch führten Danielle Ferreira aus dem Jerusalem-Team des forumZFD und Christoph Bongard.