Das kleine Beduinendorf Khan al-Ahmar hat in den letzten Monaten international große Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Gelegen in einem strategisch wichtigen Gebiet zwischen Ost-Jerusalem und israelischen Siedlungen kämpft es gegen seine Zerstörung und Zwangsumsiedlung. Auch der Besuch von Bundeskanzlerin Angela Merkel in Israel Anfang Oktober blieb von der Situation in Khan al-Ahmar nicht unberührt.
Etwa acht Kilometer östlich von Jerusalem an der Straße nach Jericho tauchen im Schutz der rotbraun gefärbten Kalksteinberge ein paar Wellblechdächer und provisorisch zusammengezimmerte Hütten auf. Khan al-Ahmar – die „rote Herberge“ – heißt das kleine Beduinendorf. Sein Namensgeber war ein Gasthaus, das im 13. Jahrhundert auf den Ruinen eines Klosters hier errichtet worden war.
Die 32 Familien, die hier leben, gehören den Jahilin-Beduinen. Ursprünglich lebten sie in der Gegend Tel Arad im Negev. Hier zogen sie als Nomaden, als Hirten mit ihren Schafherden durchs Land. Die Staatsgründung Israels 1948 hatte auch Auswirkungen auf das Leben der Beduinen: Schon kurze Zeit darauf mussten sie ihre Heimat verlassen. 1952 erreichten sie Khan al-Ahmar. Zu dieser Zeit stand das Westjordanland noch unter jordanischer Verwaltung. Die Jahilin begannen, sich eine neue Bleibe zu errichten. Je nach Jahreszeit und Wetterbedingungen hielten sie sich mit ihren Tieren mal auf den umliegenden Hügeln, mal weiter im Tal auf. Es gab Quellen, über die sie sich mit Wasser und Salz versorgen konnten. Der Sechstagekrieg 1967 veränderte ihre Lebensumstände ein zweites Mal: Israel besetzte das Westjordanland, ohne Khan al-Ahmar als bewohntes Gebiet anzuerkennen.
Seitdem kämpft der kleine Beduinenort um seine Existenz. Er liegt in der Zone C der besetzten palästinensischen Gebiete und unterliegt der israelischen Militäradministration. Zudem befindet sich Khan al-Ahmar auf einem Landstück, das Israel zur Erweiterung der nahe gelegenen Siedlungen Kfar Adumim (2 km entfernt im Norden) und Ma’ale Adumim (im Südwesten, angrenzend an Ost-Jerusalem) vorgesehen hat. Nach und nach wurden deshalb bereits drei von vier Dörfern der Jahilin zwangsumgesiedelt, die sich ebenfalls in der Gegend niedergelassen hatten.
Unter schlechten Bedingungen leben heute 50 Familien in Al-Jabal nahe der palästinensischen Stadt Abu Dis, zwischen Ost-Jerusalem und Ma’ale Adumim. Direkt neben Al-Jabal befindet sich eine Müllhalde, Platz für Schafe und Ziegen und die traditionelle Lebensweise der Beduinen gibt es hier nicht. In den ersten Jahren waren die Familien in Frachtcontainern untergebracht, ohne Zugang zu Strom und fließendem Wasser. Die neue Situation zwang sie zu einem Lebenswandel: Heute bestreiten sie als Hilfs- oder Bauarbeiter in den umliegenden Ortschaften und israelischen Siedlungen ihren Lebensunterhalt.
Die etwa 180 Menschen aus Khan al-Ahmar, 92 von ihnen sind Kinder und Jugendliche, sollen nun ebenfalls dem israelischen Siedlungsbau weichen. Das betrifft auch die Schule, die mithilfe der italienischen Organisation Vento Di Terra und weiterer Freiwilliger 2009 gebaut wurde. Das Gebäude wurde aus Lehm und alten Autoreifen gebaut und hat sieben Klassenzimmer. Mehr als 150 Kinder zwischen 5 und 16 Jahren lernen hier, etwa die Hälfte von ihnen kommt aus umliegenden Dörfern. Mit der Zerstörung von Khan al-Ahmar und der Schule würden sie ihre einzige Möglichkeit der schulischen Bildung verlieren.
Khan al-Ahmar ist nicht das einzige Dorf in der Zone C, das von der Zerstörung durch israelische Behörden bedroht wird. Laut Amnesty International wurden seit 1967 über 50.000 palästinensische Häuser und Strukturen zerstört und zwangsumgesiedelt. Die Vereinten Nationen sehen aktuell Khan al-Ahmar und 17 weitere Beduinen-Gemeinden in der Gegend um Ost-Jerusalem der Gefahr einer Zwangsumsiedlung ausgesetzt, da sie in oder in unmittelbarer Nähe von Gebieten liegen, die Israel für den Bau oder die Erweiterung israelischer Siedlungen vorgesehen hat. Die israelische Seite rechtfertigt die Zerstörung damit, dass die Unterkünfte illegal, also ohne Baugenehmigung, aufgestellt wurden. Für Palästinenserinnen und Palästinenser ist es jedoch quasi unmöglich, eine Baugenehmigung von der israelischen Militärverwaltung zu bekommen. Dass der Bau von Siedlungen auf besetztem Land nach internationalem Recht ebenfalls illegal ist, streitet Israel ab.
Mehrmals in den letzten Jahren wurden bereits Unterkünfte in Khan al-Ahmar zerstört – und jedes Mal wieder aufgebaut. Seit Mai spitzt sich die Lage weiter zu. Mehrere Anträge und Petitionen, Versuche, die Zerstörung aufzuhalten, hat das Oberste Gericht in Israel abgewiesen. Am 24. Mai genehmigte das Gericht die Zwangsumsiedlung. Damit war die letzte Hürde für die Räumung Khan al-Ahmars aus dem Weg geräumt.
Am 4. Juli begann der Bau einer befestigten Zufahrtsstraße nach Khan al-Ahmar, um die Anfahrt für schweres Gerät zu ermöglichen. Die Menschen protestierten, dabei wurden 11 Demonstrierende festgenommen, vier Menschen kamen verletzt ins Krankenhaus. Israelische Polizei und Sicherheitskräfte zogen ihre Konsequenzen: Während der weiteren Bauarbeiten durften die Anwohnerinnen und Anwohner ihre Behausungen nicht mehr verlassen.
Gleichzeitig wurden weitere Einsprüche und Petitionen gegen das Gerichtsurteil eingereicht. Einige verlangten, dass die Genehmigung der Zerstörung aufgehoben würde. Andere forderten einen Aufschub, bis ein anderer, adäquater Ort zum Leben gefunden wäre. Dies bewirkte immerhin, dass das Gericht eine Unterlassungsverfügung aussprach. Am 11. September jedoch zerschlugen sich auch diese Hoffnungen: Das Gericht lehnte alle Petitionen und Einsprüche ab. Damit endete die Unterlassungsverfügung des Obersten Gerichts in Israel, die die Zerstörung des Ortes Khan al-Ahmar und die Zwangsumsiedlung seiner Bewohnerinnen und Bewohner für einige Zeit verhindert hatte.
Die Solidarität mit den Familien aus Khan al-Ahmar wuchs. Noch in der Nacht des 11. Septembers machten sich etwa hundert Aktivistinnen, palästinensische und internationale Unterstützer und Journalistinnen auf den Weg nach Khan al-Ahmar. Es gibt regelmäßige Treffen, Kundgebungen und Demonstrationen, um die Zerstörung aufzuhalten. Sogar das Bildungsministerium der Palästinensischen Autonomiebehörde hielt zum Zeichen der Solidarität eins seiner wöchentlichen Meetings im Begrüßungszelt in Khan al-Ahmar ab.
Einige Aktivistinnen und Aktivisten errichteten ein Protestcamp direkt neben Khan al-Ahmar. Vier oder fünf Bretterbuden aus Holz und Wellblech bildeten eine eigene kleine Nachbarschaft zwischen Khan al-Ahmar und der israelischen Siedlung Kfar Adumim. Der Grund und Boden sei palästinensischer Privatbesitz, erklärte die Aktivistengruppe. Die israelische Polizei vor Ort schaute zunächst untätig zu. Zwei Tage später wurde das Camp zerstört.
Auch Mitglieder der Combatants for Peace und anderer Organisationen sind vor Ort. Seit mehreren Monaten arbeitet die Jerusalem-Jericho-Gruppe der Combatants mit der beduinischen Gemeinde in Khan al-Ahmar zusammen. Bereits am 11. Juli nahmen sie an einem Meeting in der Schule teil, um deren Zerstörung zu verhindern. Hier waren auch hochrangige Vertreter der palästinensischen Regierung anwesend.
Am 23. September teilten die israelischen Behörden den Menschen in Khan al-Ahmar mit, dass sie den Befehl zur Zerstörung gemäß dem Richterspruch ausführen werden, wenn sie nicht innerhalb einer Woche freiwillig ihre Sachen packen und die selbst erbauten Hütten verlassen würden. Die Frist verstrich am 1. Oktober. Seitdem werden täglich die Bulldozer erwartet.
Während des Besuchs von Bundeskanzlerin Angela Merkel in Israel Anfang Oktober wurde die Zerstörung offiziell „aus diplomatischen Gründen“ noch einmal ausgesetzt. Bereits im Juli hatte das Auswärtige Amt in einer Pressemitteilung die israelische Regierung aufgerufen, die Räumung und Umsiedlung von Khan al-Ahmar zu unterlassen.
Internationale Organisationen schalteten sich ein: Am 30. September führten Amnesty International und die Organisation Jewish Voice for Peace einen Twittersturm auf das Profil einer Abteilung des israelischen Verteidigungsministeriums (COGAT) durch. COGAT ist verantwortlich für Aktivitäten der Regierung in den besetzten palästinensischen Gebieten. Ziel war, über Twitter eine breite Öffentlichkeit zu erreichen und diese auf die geplante Zerstörung am 1. Oktober aufmerksam zu machen. Das Internationale Rote Kreuz äußerte sich ebenfalls und verurteilte die geplante Zerstörung.
„Es ist eindeutig, dass die Vertreibung ein Versuch der israelischen Regierung ist, eine jüdisch kontrollierte, territoriale Verbindung zwischen Jericho und Jerusalem herzustellen. Seit 20 Jahren wurde kein vollständiges Dorf umgesiedelt, und wir müssen uns gemeinsam mit all unserer Kraft dagegen stellen und einen Präzedenzfall verhindern, auf den noch viele weitere folgen könnten“, sagten Mitglieder der Combatans for Peace.
Es geht also noch um weit mehr als das Auslöschen eines Dorfes: Die Umsiedlung palästinensischer Familien aus Zone C in andere Bereiche des Westjordanlands trägt seit Jahrzehnten zu einer Zerstückelung der Palästinensischen Gebiete bei. Khan al-Ahmar nimmt hierbei eine strategische Schlüsselrolle ein. Wird das Dorf tatsächlich zerstört und werden die Siedlungen Kfar Adumim und Ma’ale Adumim erweitert und verbunden, kommt dies einer Defacto-Teilung des Westjordanlands gleich. Ost-Jerusalem würde von Städten und Gemeinden im Westjordanland isoliert.
Am 13. September meldete sich das Europäische Parlament zu Wort. Es erließ eine Resolution, die Israels Entscheidung, Khan al-Ahmar zu zerstören und umzusiedeln, als einen Verstoß gegen internationale Menschenrechte bezeichnete. Zudem verlangt das Parlament in der Resolution eine Kompensation für die zerstörte Infrastruktur des Dorfes, die mit EU-Mitteln in Höhe von 315.000 € finanziert wurde. Federica Mogherini, Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik, erklärte, die Zerstörung Khan al-Ahmars gefährde eine mögliche Zwei-Staaten-Lösung. Der Bau israelischer Siedlungen zusammen mit der Zerstörung palästinensischer Häuser schaffe eine Realität, in der nur ein Staat möglich sei, mit ungleichen Rechten für zwei Völker, andauernder Besatzung und Konflikten.
Saeb Erekat, palästinensischer Politiker und Chefunterhändler in den israelisch-palästinensischen Verhandlungen, erklärte im September, die Palästinensische Befreiungsorganisation PLO habe eine Klage beim Internationalen Kriegsgerichtshof eingereicht, mit der Begründung, dass die Zerstörung Khan al-Ahmars und die Zwangsumsiedlung der Menschen nach internationalem Recht ein Kriegsverbrechen sei.
Am 5. Oktober kamen Schulkinder von Khan al-Ahmar zum Wohnsitz des israelischen Präsidenten Reuven Rivlin in Jerusalem, um friedlich für den Erhalt ihrer Schule zu demonstrieren. „Wenn sie unser Dorf und unsere Schule zerstören, werden wir sie wieder aufbauen. Wir bleiben felsenfest auf unserem Land“, erklärte eine Sechstklässlerin.
Wann und in welcher Form der Räumungsbeschluss in die Tat umgesetzt wird, ist nach wie vor unklar. Die Ungewissheit geht vor allem an den Kindern und Jugendlichen in Khan al-Ahmar nicht spurlos vorbei. „Sie haben Alpträume, Schlafstörungen und nässen sich nachts ein“, berichten Eltern. Ausländern ist der Zugang zum Ort mittlerweile systematisch per Gesetz untersagt. Nach dem Besuch von Bundeskanzlerin Angela Merkel in Israel wurde Khan al-Ahmar zum militärischen Sperrgebiet erklärt.