Insgesamt drei Busse dieser Art in den Regionen Sindschar, Sharya, Ayadiya/Tal Afar und Erbil sind eines der Kernprojekte des forumZFD im Irak. Initiiert wurden die ungewöhnlichen Bustouren in Ayadiya, einem Bezirk im Nordirak, wo das forumZFD seit Oktober 2022 das Salam Center betreibt. Ayadiya war eines der letzten Gebiete, die vom Islamischen Staat (IS) befreit wurden. Hier wiegt das brutale Erbe des IS besonders schwer. Das Salam Center richtet sich entsprechend an Menschen, die Angehörige verloren, schlimmste Menschenrechtsverletzungen und Flucht erlebt haben.
Die irakische Gesellschaft, bestehend aus Schiiten, Sunniten, Christen, Jesiden und vielen weiteren kleineren Bevölkerungsgruppen, ist durch eine jahrzehntelange Geschichte zahlreicher Konflikte tief gespalten (siehe Infobox). Das Verhältnis der verschiedenen ethnischen Gruppen zueinander ist von tiefem Misstrauen geprägt. Infrastruktur und Häuser wurden immer wieder zerstört, der Wiederaufbau und die Beseitigung von Landminen, Sprengfallen und Munitionsresten geht nur schleppend voran. Schließungen von Flüchtlingslagern haben dazu geführt, dass viele Familien in teils immer noch zerstörte Orte zurückkehren mussten. Wirtschaftliche Unsicherheit macht Extremisten die Rekrutierung leicht, die islamistische Terrororganisation IS ist noch immer aktiv. Die Bevölkerung hat schreckliche Gräueltaten erlebt und leidet bis heute unter Traumata. Intoleranz und tiefsitzendes Misstrauen zwischen den verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen sowie fehlende Gerechtigkeit sind noch immer Konfliktgegenstand und Nährboden für erneute Gewaltausbrüche.
Die Bezirke Ayadiya und Tal Afar liegen im Gouvernement Ninewa im Nordwesten des Irak, nahe der Grenzen zu Syrien und der Türkei. Die Bevölkerung von Ninewa besteht aus christlichen, jesidischen, schiitisch und sunnitisch muslimischen, shabak, assyrischen, arabischen, kurdischen und turkmenischen Gemeinden. Die Region erlebte in den vergangenen Jahrhunderten zahlreiche Wellen bewaffneter Konflikte. In der jüngeren Geschichte waren es u.a. die Arabisierungsbemühungen Saddam Husseins, der Einmarsch der US-Streitkräfte im Jahr 2003, die darauffolgenden Angriffe von Al-Qaida, die Übernahme weiter Teile der Region durch den IS im Jahr 2014, die anschließende gewaltsame Befreiung im Jahr 2017, gefolgt von landesweiten Unruhen und Herausforderungen beim Wiederaufbau im Jahr 2019. 2022 stufte der UN-Sicherheitsrat die Verbrechen des IS von 2014 bis 2017 als Völkermord gegen die Jesiden ein.
Der Kontrast zwischen der Idee des Friedensbusses und der Umgebung, die er durchquert, könnte härter nicht sein. Immer wieder passiert er auf seinen Touren eingefallene Häuser und zerstörte Lehmziegelmauern. Viele Straßen sind noch verschüttet und Gebäude wurden noch nicht von den Überresten des Krieges befreit. Das ist die Kulisse des Alltags, hier bringt der Bus die Friedensarbeit zu den Menschen und holt sie zu Hause ab, also im Wortsinne da, wo sie stehen. Andere stoßen am Salam Center dazu. Von dort aus fährt der Bus in die Natur oder Parks, wo an sicheren Orten und in entspannter Atmosphäre verschiedene Aktivitäten in der Gruppe stattfinden. Im Schatten der Bäume oder einem Zelt wird ein Stuhlkreis aufgestellt und schon kann es losgehen. Es braucht keine Tafel oder schwierige Vorkenntnisse, viele Teilnehmende können gar nicht Lesen oder Schreiben. Also wird einfach erzählt und diskutiert, was „Frieden“ ist oder was die Menschen unter „Konflikt“ verstehen. Wie können Menschen ohne Gewalt miteinander kommunizieren, wieso haben sie Vorurteile und wie kann man mehr Toleranz und Verständnis füreinander aufbauen? Die Teilnehmenden kommen in einem geschützten Raum und positiver Atmosphäre darüber ins Gespräch, wie Vertrauen zwischen Bevölkerungsgruppen, die einander noch vor wenigen Jahren bekämpft haben und bis heute häufig gegenseitig diskriminieren, wieder wachsen kann.
Ayadiya ist überwiegend schiitisch und sunnitisch geprägt und sehr traditionell. Dennoch hat der Salam Bus innerhalb von vier Monaten hier schon mehr als 1200 Menschen erreicht. Das Projekt begann mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen, weitete sich jedoch schnell auf alle Altersgruppen aus. Eine besondere Zielgruppe der Busfahrten sind Mädchen und Frauen, weil sie bei der friedvollen Gestaltung ihrer Gemeinschaft eine tragende Rolle spielen. Der Salam Bus gibt ihnen die Chance, oft zum ersten Mal aus dem häuslichen Mikrokosmos auszubrechen und mit Anderen in Kontakt zu treten. "Vor dem Salam-Bus hatten wir keinen Ort, an dem wir uns treffen konnten. Wir saßen oft zu Hause fest und hatten keine Möglichkeit, auszugehen. Der Salam Bus gibt uns einen Grund, das Haus zu verlassen, und nicht nur das, er tut auch unserer psychischen Gesundheit gut", erzählt eine Teilnehmerin aus Ayadiya.
In den Anfängen ab Oktober 2023 war es undenkbar, geschlechtergemischte Gruppen an Fahrten des Salam Busses teilnehmen zu lassen. Zu stark sind traditionelle Rollenbilder und Geschlechtertrennung in der Gesellschaft verankert. Zu Beginn des Projekts waren nur zwei Frauen dabei. Inzwischen sind sie in der Mehrheit. Einige forumZFD-Mitarbeiterinnen stammen aus denselben Gemeinden wie die Teilnehmenden und tragen dazu bei, den Zugang zu den Menschen und das Vertrauen in die Aktivitäten zu stärken. Vor allem für Frauen ist der Salam Bus daher zu einem sicheren und unterstützenden Ort des Austauschs untereinander geworden, wo sie sich verstanden fühlen und öffnen. Eine 34-jährige Teilnehmerin aus Ayadiya erzählt: „Als geschiedene Frau sehen mich die Leute auf eine bestimmte Art und Weise an, und ich trage diese Scham überall mit mir herum. Im Salam Bus habe ich andere Frauen über die Kämpfe und Probleme in ihrem Leben sprechen hören. Das hatte ich nicht erwartet und es hat mir gezeigt, dass Frauen viel mehr miteinander verbunden sind, als wir wissen. Dies hat mir Hoffnung gemacht und mich bestärkt, den Austausch mit anderen Frauen zu suchen.“
Mittlerweile treffen sich sogar gemischte Gruppen zu gemeinsamen Aktivitäten. Verglichen mit der erst ein Jahr zurückliegenden Anfangszeit des Projekts ist allein dieses ungezwungene Zusammensein von Frauen und Männern ein riesiger Erfolg. Anfangs wurde das Projekt sowohl von den Gemeindeleitungen als auch von der Bevölkerung kritisch beäugt. Frauen bekamen oft keine Erlaubnis ihrer Männer, Brüder oder Väter, an einer geschlechtergemischten Aktivität teilzunehmen. Mittlerweile, nach vielen Treffen und Gesprächen mit Bürgermeistern und Gemeindevorstehern, hat der Salam Bus unter den lokalen Autoritäten viele Fürsprecher. „Es war wichtig, gute Beziehungen und Vertrauen zu den Gemeinden aufzubauen“, erklärt Raife Janke, Landesdirektorin des forumZFD im Irak. Dazu wurden Stammesführer und andere männliche Vertreter der Gemeinschaften eingeladen, an Aktivitäten teilzunehmen. Mitarbeiterinnen übernahmen die Leitung dieser Aktivitäten und knüpften Kontakte zu den Teilnehmern, um ihr Vertrauen zu gewinnen und ihnen zu zeigen, dass ihren Frauen hier kein Unheil droht. Das zahlte sich aus. Viele Gemeindeleitungen verbreiten inzwischen die Veranstaltungen des Salam Busses über soziale Medien, so dass sich das Projekt um die Mobilisierung der Menschen kaum noch kümmern muss. Das Interesse ist groß und die Bevölkerung nimmt das Angebot dankbar an.
Zur ersten gemischtgeschlechtlichen Salam Bus-Tour in Ayadiya waren vor allem Jugendliche eingeladen. Sowohl die Veranstalter*innen als auch die Teilnehmenden waren zunächst skeptisch, aber die Berührungsängste und Vorbehalte der jungen Menschen verschwanden schnell. Die schüchterne Atmosphäre wich freundschaftlichem Austausch und konstruktiven Diskussionen zwischen den Jugendlichen. „Wir mochten die Idee einer gemischten Gruppe erst gar nicht, aber ich kenne Momen (Mitarbeiter des Salam Center) und er hat mir versichert, dass die Sitzungen mit höchstem Respekt stattfinden und dass es hier niemals zu engem Körperkontakt kommen wird. Ich muss sagen, dass ich dankbar bin, dass ich die Jugendlichen in der Stadt besser kennengelernt habe, schließlich sind wir hier eine kleine geschlossene Gemeinschaft und ich kenne sie alle, aber ich habe nie mit ihnen gesprochen und ihre Sichtweise gehört“, erzählt ein junger Teilnehmer.
Viele Jugendliche äußerten, dass ihre Meinung in ihrer Gemeinde nicht gehört oder respektiert werde, aber im Salam Bus sei das anders. Hier bestimmen die Teilnehmenden selbst über die Themen, die sie besprechen wollen. So fühlt sich niemand fremdbestimmt und das Vertrauen fällt leichter. Was skeptisch begann, hat sich in eine gemeinsame Reise des persönlichen Wachstums gewandelt, besonders für Frauen und Jugendliche, die sich hier entfalten können, eine Stimme finden und Teil einer zuhörenden, wertschätzenden Gemeinschaft werden.
Frieden spenden
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Eine 22-jährige Frau aus Ayadiya berichtet: „Ich war immer die Ruhige. Ich hatte nie das Gefühl, in eine Gruppe zu gehören, also blieb ich für mich. Im sozialen Umfeld des Salam Bus habe ich etwas erlebt, was ich so nicht kannte - dass es in Ordnung ist, etwas zu sagen. Als es auf dem Weg nach Tal Afar um die Beteiligung von Frauen an Entscheidungsprozessen ging, meldete ich mich zu Wort und niemand lachte oder ignorierte mich, sondern die Anderen teilten meine Begeisterung und unterstützten mich. Das gab mir Kraft, von der ich nicht wusste, dass ich sie habe. Jetzt habe ich das Gefühl, dass ich aufgewacht bin und nicht mehr so oft schweigen werde.“ Und eine Mutter von sieben Kindern sagt: „Ich fühle mich inspiriert, mehr über meine Rolle in der Gemeinschaft nachzudenken, und ich will alle meine Töchter ermutigen, ebenfalls an den Salam Bus Aktivitäten teilzunehmen.“
Auf seiner Tour hält der Bus an verschiedenen Orten, sammelt Menschen ein und gibt ihnen Einblicke in die verschiedenen Gemeinschaften. Ein Mehrwert für die Teilnehmenden ist also auch, ein bisschen in ihrer Gegend herumzukommen. Im Vordergrund steht das gemeinsame Erleben schöner Dinge, bevor die Menschen sich auch für schwierige und schmerzhafte Themen öffnen können. Mitarbeitende des forumZFD Irak und seiner lokalen Partner begleiten und moderieren die Gesprächsrunden. Viele Teilnehmende beschäftigt die Frage, wie eine friedliche Koexistenz möglich werden kann. Es geht um den Umgang mit Vorurteilen, Identität und Stereotypen.
Der Salam Bus fährt erst seit einem Jahr, aber die Erfahrungen sind eindeutig: Der Austausch über geteilte Erfahrungen und den Umgang damit hilft sehr, traumatische Erlebnisse zu bearbeiten und sich trotz der Gräuel der Vergangenheit wieder auf Augenhöhe und in Menschlichkeit zu begegnen. Kreativangebote wie Musik und Tanz während der Salam Bus Aktivitäten bieten Raum für positives Erleben und gemeinsamen Genuss. Das schafft Vertrauen und Offenheit für die Erfahrungen, Bedürfnisse und Ängste der Anderen und stellt eine tiefere Verbindung her, als sie in einem Alltag voller Feindseligkeit und Misstrauen entstehen könnte. Menschen erleben einander als menschlich, als benachteiligt und leidend, aber eben auch als fröhlich und kreativ. Wer sich einmal auf einer solchen Ebene begegnet ist, nimmt „die Anderen“ nicht mehr als anonyme Gruppe wahr, sondern sieht zunehmend die einzelne Person. Mobile Friedensarbeit ist ein Erfolgsmodell, das hoffentlich noch viele Nachahmer*innen finden kann, um nicht nur im Nordirak, sondern auch in vielen weiteren Krisenregionen ein besseres Verständnis der Menschen füreinander wachsen zu lassen.