Dieser Tage saß ich eines warmen, sonnigen Morgens in einem Straßencafé in Skopje, wo ich mit einer Mitarbeiterin ein Treffen vorbereitete. Plötzlich, mitten im Satz, erstarrte ihr Gesichtsausdruck. Ich folgte ihrem Blick: Da fuhr eine schwarze Limousine der russischen Botschaft an uns vorbei, mit sechs unübersehbaren, aus grauem Klebeband gefertigten „Z“-Markierungen versehen, jeweils auf der Motorhaube, auf dem Heck und auf jeder der vier Türen. Es ist das Zeichen, dass derzeit auch von russischen Militärfahrzeugen im Krieg gegen die Ukraine verwendet wird.
Am nächsten Tag erreichten die Bilder aus dem ukrainischen Butscha unsere nicht ganz so heile balkanische Welt. Bei Abertausenden Menschen in der Region müssen diese Bilder traumatische Erinnerungen hochgebracht haben. Und dennoch: Russlands Kampf um Deutungshoheit auch über diese Bilder fällt hier auf fruchtbaren Boden.
Derweil bemühen sich die neuen Regierungen in Skopje und Sofia, einen Identitätsstreit beizulegen, was Nordmazedonien die lange überfällige Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen ermöglichen würde. Beide Seiten geben sich optimistisch und verhandeln rege. Doch in den letzten Tagen wurden in beiden Hauptstädten russische Diplomat*innen des Landes verwiesen. Während in Skopje offiziell über die Gründe geschwiegen wird, spricht der bulgarische Premier offenherzig von russischen Versuchen, den Annäherungsprozess zu Nordmazedonien zu torpedieren. Beide NATO-Länder werden von Russland als „unfreundlich“ geführt.
Anfang April gewann in Serbien der autokratisch gesinnte Russlandfreund Aleksandar Vučić die Präsidentenwahl, in Ungarn siegte die Partei seines gleichgesinnten Kollegen Orbán bei der Parlamentswahl. Beide könnten noch lange im Amt bleiben, wenn es nach ihrem Willen geht.
Gleichzeitig hat die Zugkraft der EU in der gesamten Region schleichend, aber unaufhaltbar nachgelassen. Der Erweiterungsprozess der EU auf die Länder des sogenannten Westbalkans schleppt sich nun über zwei Jahrzehnte hin. Während der Unwillen einiger Mitgliedsstaaten gerne euphemistisch mit „Erweiterungsmüdigkeit“ umschrieben wird, werden periodisch neue Kriterien eingeführt, um die angeblich mangelnde Reformbereitschaft der Länder der Region zur Schau zu stellen. Im Gegenzug werfen Politik und Zivilgesellschaft der EU doppelte Standards vor. Die EU wird nicht mehr als politische Regionalmacht gesehen, allenfalls einige ihrer Mitgliedstaaten, wie etwa Deutschland oder Österreich. Die Rolle der Regionalmacht spielen Russland und die Türkei viel besser. Und sie spielen sie aus, politisch und wirtschaftlich. Genau jetzt, während die EU um weiterreichende Sanktionen gegen Russland und ein Embargo auf Gaseinfuhren ringt, unterhalten sich Vučić und Putin über einen Ausbau der Beziehungen im Energiesektor, während Orbán im EU-Rat gegen Sanktionen mauert.
Serbien ist eine Ausnahme in der Region: Der Einfluss der USA ist sehr eingeschränkt und das Land hat keinerlei Absicht, der NATO beizutreten. Beides geht auf den Kosovo-Konflikt zurück, als die NATO Ziele in Belgrad und anderen serbischen Städten bombardierte. Seitdem hat die serbische nationalistische Elite sehr erfolgreich das Opfer-Narrativ ausgebaut und Abneigung gegen die NATO in eine anti-westliche und zunehmend pro-russische Haltung ausgebaut.
Der Anspruch Russlands als Schutzmacht wird auch in der serbischen Teilrepublik Bosniens und Herzegowinas immer deutlicher. Der dortige Provinzautokrat, Milorad Dodik, droht seit Jahren mit seinem Austritt aus dem gemeinsamen Staatsverband. Bislang ist es Rhetorik, doch die politische Unterstützung durch Moskau ist unverkennbar. Die Drohung mit Eskalation ist Dodiks täglich Brot, und Putin der Brotaufstrich.
Kosovo ist der einzige jugoslawische Folgestaat, in dem Russland so gut wie keine Sympathien zumindest bei der Mehrheitsbevölkerung genießt. Allerdings mischt Russland im Hintergrund mit, wenn es um die Dynamik der Gespräche mit Serbien geht, deren Ergebnis dereinst die Anerkennung des Kosovo sein soll.
Russland setzt mittelfristig auf diese Vorposten, um den Westen in Konflikte hineinzuziehen. Die ideologische Basis dafür finden rechtsradikale Theoretiker*innen in Russland und deren Gefolge im Balkan im Panslawismus. Das ist jene spätromantische Ideologie, die eine Vereinigung aller slawischen Brüder (von Schwestern war da wenig die Rede) propagierte. Ihre politischen Anhänger*innen fügten dann hinzu, dass diese Vereinigung unter der gottgegebenen Führung Russlands, dem „dritten Rom“, und seiner orthodoxen
Kirche stattzufinden habe.
Zwei andere Zutaten machen den Cocktail in der Region explosiv. Zum einen der allenthalben präsente Populismus, zum anderen die Verquickung linker Befreiungsideologeme (Antikolonialismus, Antiimperialismus) mit faschistischen Elementen. Demnach ist immer nur die eigene, überlegene Nation es wert, befreit zu werden. Das kann aber nur auf Kosten aller anderen passieren. Zu den Vernichtungsideologien, wie sie derzeit von Kreml-Theoretikern wie Aleksandr Dugin oder Timofei Sergeitsev vertreten werden, ist es dann nicht mehr weit. Vor allem der kürzlich von der russischen staatlichen Nachrichtenagentur RIA Novosti verbreitete Text des Letzteren wurde als „Blaupause für einen Genozid“ bezeichnet.
Derzeit ist ein starker Schub vor allem über soziale Netzwerke zu verzeichnen, genau diese Elemente des Cocktails im Balkan zu aktivieren. Es ist wohl nicht so, dass Russland einen Masterplan hätte, sondern es setzt auf die Destabilisierung der Region und scheint Konflikte gezielt ausnutzen zu wollen, um den Einfluss der EU und der USA in der Region einzudämmen. Die entsprechenden Subkulturen gibt es schon, als Beispiel sei hier nur die in Serbien sehr zahlreiche Mitglieder zählende Szene offen faschistischer Fußball-Hooligans genannt. All das hätte deutlich weniger Aussichten auf Erfolg, wenn die EU es mit der Erweiterung ernst nähme und den Rest der Länder in der Region, die zusammen etwa so viel Bevölkerung wie die Niederlande haben, in einem mutigen Schritt integrieren würde. Die geostrategische Tatsache, dass die Länder des sogenannten Westbalkans von allen Seiten von EU und NATO-Staaten umgeben sind, kann nicht ignoriert werden. Russische Einflussgebiete wären hier sehr riskant.
In diesem gesamten Kontext müssen wir Friedensarbeit einmal mehr als Konfliktprävention verstehen. Wir müssen uns weiterhin und intensiver darauf konzentrieren, die Teile der Zivilgesellschaft zu stärken, die sich dem nationalistischen und implizit pro-russischen Diskurs entgegenstemmen. Das passiert, wenn die Zivilgesellschaft auf grenzübergreifende Zusammenarbeit setzt, auf dringlichere Erziehung zu kritischem Denken und auf den Aufbau einer kritischen Gegenöffentlichkeit.
Das kann aber nur funktionieren, wenn die traumatische Vergangenheit aufgearbeitet wird, wenn ein gemeinsames Geschichtsbild geschaffen wird, wenn Geschichtsklitterung und deren Instrumentalisierung massiv bekämpft werden. Die Vision eines vereinten Europa muss auch auf dem Balkan wieder Fuß fassen können, wohl wissend, dass wir alle davon noch sehr weit entfernt sind.
Harald Schenker ist Landesdirektor des forumZFD in Skopje, Nordmazedonien.