Die stark gekürzte Zusammenfassung des 40-seitigen Berichts „The EU as a Peace Project“ dokumentieren wir im Kontext der Kampagne „Rettet das Friedensprojekt Europa“, die vom forumZFD initiiert und mitgetragen wird. Insbesondere die politischen Implikationen, die von den Workshop-Teilnehmenden erarbeitet wurden, werfen den Fokus über das Friedensprojekt Europa hinaus auf die Frage, welchen Aufgaben sich auch zivilgesellschaftliche Gruppen, die sich für den Frieden engagieren, selbst stellen müssen, um einen Beitrag für das „Friedensprojekt Europa“ zu leisten.
Der Prozess der Europäischen Integration, aus dem die Europäische Union (EU) resultierte, wird oft als „Friedensprojekt“ bezeichnet. In der EU-Vorläuferorganisation, der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EKGS), kontrollierten die ehemaligen Kriegsgegner ab 1952 gegenseitig die Nutzung ihrer essenziellen Güter für Rüstung, Kohle und Stahl mit dem Ziel, einen innereuropäischen Frieden sicherzustellen. Im Jahr 2012 wurde die EU mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet, weil die Integration von zentral- und osteuropäischen Ländern in die EU maßgeblich zum Frieden in Europa beigetragen habe. Doch in den letzten Jahren sind die EU und ihr „Friedensprojekt“ zunehmend unter Druck geraten. Die wachsende Ungewissheit über die zukünftige Ausrichtung der EU lässt viele Fragen aufkommen, wie und ob sich die Union als „Friedensprojekt“ entwickeln wird. Wie wird die EU beispielsweise im Jahr 2040 aussehen?
Die vier entwickelten Szenarien wurden vor dem Hintergrund folgender zwei Unsicherheiten erstellt:
- Werden die Werte der EU (z. B. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Einhaltung der Menschenrechte) in Zukunft bestehen bleiben oder werden diese mehr und mehr missachtet?
- Wird sich die EU noch erweitern oder sich schrittweise auflösen?
Die vier möglichen Szenarien für 2040
„Paranoid Android“
Das „Friedensprojekt“ EU wurde umdefiniert und ist jetzt auf die Sicherheit und Stabilität für die Bürgerinnen und Bürger fokussiert. Dies geschieht jedoch zu einem hohen Preis, nämlich der Priorisierung von Sicherheit vor Bürgerrechten, wenn dies als nötig erachtet wird. Die EU ähnelt einem
Superstaat und hat die technischen Mittel, um durch interne Überwachung und harte Kontrollen ihrer Außengrenzen in „voller Kontrolle“ zu sein.
Die Union schaut in erster Linie nach innen und fürchtet die Gefahren der restlichen Welt. Um die Grenzen zu sichern und um Migration zu verhindern, unterstützt die EU illiberale und autoritäre Regime in den angrenzenden Regionen.
Die Vereinigten Staaten von Europa
Die EU floriert als „Friedensprojekt“. Sie ist zu einer Föderation europäischer Staaten geworden. Dabei ist die Kooperation nicht nur intensiver
geworden – es gibt gemeinsame EU-Streitkräfte, eine EU-Regierung und EU-weite Steuern –, sondern durch den Beitritt der Staaten des westlichen Balkans und der Ukraine sowie der Rückkehr Großbritanniens ist die Zusammenarbeit auch breiter gefächert. Nach innen hat das EU-„Friedens projekt“ seinen Mitgliedstaaten Wohlstand, Sicherheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit beschert. Nach außen präferiert die
EU einen „Soft Power“-Ansatz und zieht Gespräche und Dialogangebote dem Einsatz von Gewalt vor. Dadurch kommen aber auch einige illiberale bzw. autoritäre Regime im Mittleren Osten und in Afrika mit Menschenrechtsverletzungen, Unterdrückung und Konflikt davon. Zudem wird die EU von manchen Bürgerinnen und Bürgern weiterhin als Elitenprojekt wahrgenommen.
Osten, Westen, der Norden ist am besten
Die EU wurde durch einige lose regionale Netzwerke ersetzt, von denen die Nordeuropäische Union, die NEU, die wohlhabendste und bedeutendste ist. Auch wenn es die EU als integriertes „Friedensprojekt“ nicht mehr gibt, sind die europäischen Werte wie Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit nicht verschwunden. Diese haben immerhin schon vor der EU existiert. Die europäischen Regierungen haben die Demokratie durch den Einsatz moderner Technologien verstärkt und Entscheidungsfindungsprozesse greifbarer für die Bevölkerung gemacht. Es gibt keine strukturelle EU-Kooperation in den Bereichen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik mehr, auch nicht im Bereich Justiz und Inneres. Außerhalb der Zusammenarbeit in der NATO suchen Länder, Regionen und Städte flexible Lösungen für aufkommende Herausforderungen. Allerdings haben die europäischen Staaten dadurch relative Macht und Einfluss an China und Russland verloren. Zudem sind die regionalen Netzwerke anfällig für innere sozialen Unruhen und Manipulationen sowie Angriffe von außen.
Alle gegen alle
EU und die NATO sind auseinandergebrochen. Die Staaten verfolgen kurzfristige Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen und arbeiten nur noch
ad hoc und auf der Basis von Opportunismus zusammen. Die Sicherheit des Staates und der gesellschaftlichen Mehrheitsgruppen leiten die Regierungen, während die Unterdrückung von Minderheiten und Opposition wesentliche Regierungsinstrumente sind. Innerstaatliche soziale Unruhen, Dschihadismus und Separatismus treten häufig auf, aber auch internationale Spannungen und Konflikte gehören zur Tagesordnung. Deswegen investieren die Staaten hohe Summen in Verteidigung und Sicherheit. Speziell in den Ländern des westlichen Balkans drohen gewalttätige Konflikte sowie erneute Genozide.
Politischer Handlungsbedarf
Auf Basis der vier Szenarien leiteten die Workshop-Teilnehmenden die folgenden politischen Implikationen ab:
Sicherstellen, dass Technologie für das Gute eingesetzt wird
Das Internet ermöglicht sowohl die Manipulation von demokratischen Prozessen und die Destabilisierung von Sozialstrukturen als auch den Aufbau von Verbindungen zur Kooperation, die Stärkung von Regierungstransparenz sowie die Ermöglichung von Online-Referenden. Fakten zu ermitteln und Fake News entgegenzutreten, wird zukünftig immer wichtiger für die Vorbeugung von Destabilisierung und Friedensförderung. Die Friedensarbeit könnte sich stärker auf Cyber-Friedensförderung konzentrieren und die Nutzung des Internets für undemokratische Zwecke ablehnen.
Besseres Verständnis für die Beweggründe aufbringen, warum Menschen Populisten unterstützen, und Wege finden, auf ihre Bedenken einzugehen
Bürgerinnen und Bürger, die für populistische Parteien stimmen, haben legitime Sorgen und treffen rational kalkulierte Entscheidungen. Daher sollte man diese Wählerinnen und Wähler nicht als „bedauerlich“ abtun. Entscheidungsträgerinnen und -träger und die Friedensförderung könnten diese Personen für liberalere Lösungen gewinnen, wenn sie die Attraktivität populistischer Alternativen besser verstehen und konkrete Antworten auf legitime Sorgen und rationale Kalkulationen entwickeln.
Modernisierung und Redefinition von Normen und Werten und eine Erneuerung des Sozialvertrags
Technologie, Globalisierung und die wachsende Mobilität öffnen viele Möglichkeiten für staatliche und nicht staatliche Akteure, führen aber auch zu Herausforderungen und Veränderungen, die Angst erzeugen. So wird zum Beispiel beim Datenschutz ein Neudenken von Werten auf globaler Ebene erforderlich sein. Auch die wachsenden technischen Möglichkeiten der Überwachung erfordern eine Debatte darüber, wo die Grenzen staatlicher Einmischung ins Private liegen. Die höhere Mobilität und die dadurch diverser werdenden Gesellschaften werden die Wichtigkeit von Werten wie Mitgefühl, Toleranz und Respekt erhöhen. All diese Herausforderungen erfordern eine Diskussion darüber, wie Normen modernisiert werden können, um der Missachtung von Werten wie Privatsphäre und Mitgefühl vorzu- beugen. Die Friedensbewegung könnte eine Rolle dabei spielen, neue Entwicklungen im Denken, im Monitoring und der Evaluation zu fördern, sowie zu einem Dialog dazu anstoßen.
Unterstützung der Friedensförderung außerhalb der EU
Friedensförderung außerhalb der EU zu stärken, ist im eigenen Interesse der EU. Die Welt wird immer vernetzter, und Isolation sowie Rückzug wären zum Nachteil der EU. Kontinuierliche Investitionen und engere wirtschaftliche Zusammenarbeit, z. B. mit den Ländern im westlichen Balkan oder der Östlichen Partnerschaft (ÖP), sind wichtig, um dort regionale Stabilität und Frieden zu wahren. Der konfliktpräventive Effekt eines EU-Beitritts ist Grund genug, um diesen Ländern die Perspektive auf eine Integration in die EU zu erhalten. Und auch wenn manche Regierungen, speziell im westlichen Balkan, langsam aber sicher ihr Beitrittsinteresse verlieren und die Zivilgesellschaft dort geschwächt wird, sollte die EU nicht bei ihren Werten nachgeben. Die EU und die verschiedenen friedensfördernden Strukturen in der Zivilgesellschaft könnten gemeinsam einen Plan entwickeln, der diesen Ländern konkretere Aussichten und Zeiträume aufzeigt, damit eine glaubwürdige Beitrittsperspektive erhalten bleibt. Ebenso wäre eine Stärkung der zivilgesellschaftlichen Organisationen selbst wertvoll, die gerade im Südosten Europas unter Druck geraten sind.
Grenzüberschreitende Netzwerke zivilgesellschaftlicher und friedensfördernder Organisationen aufbauen
Gerade wenn sich Regierungen innerhalb der EU in eine autoritäre Richtung entwickeln, könnte die Zivilgesellschaft in den EU-Mitgliedstaaten von Organisationen lernen, die über Erfahrungen mit illiberalen oder autoritären Regimen außerhalb der EU verfügen. Dieser Austausch kann auch umgekehrt für zivilgesellschaftliche Organisationen außerhalb der EU nützlich sein.
In umweltfreundliche Lösungen investieren
Speziell die reichen und technologisch weit entwickelten Länder sind in der Verantwortung, umweltfreundlichere technische Alternativen im Kampf gegen den Klimawandel zu entwickeln. Diese Technologien sollten mit ärmeren und weniger entwickelten Ländern geteilt werden. Auch die Friedensorganisationen selbst sollten das Umweltbewusstsein in ihrer eigenen Arbeit noch stärker fördern.
Migrantinnen und Migranten aufnehmen und integrieren
Ob willkommen oder nicht, an vielen Orten sind Migrantinnen und Migranten ein Fakt und sie sind dort, um zu bleiben. Die größten migrantischen Bevölkerungsgruppen leben bereits in der dritten Generation in der EU. Diese Gemeinschaften auszugrenzen würde viel Unmut hervorrufen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt nachhaltig zerrütten, was langfristig zu Konflikten führen würde. Die Friedensorganisationen könnten dazu beitragen, zwischen verschiedenen Bevölkerungsteilen Dialoge zu etablieren und Brücken zu bauen.
Doch es gibt wenig Raum für offene Debatten über Europa. Zu oft geht es nur um die Frage, ob man für oder gegen ‚Europa‘ ist. Dies fördert aber keinen richtigen Dialog und führt nicht dazu, darüber zu diskutieren, wie Europa zukünftig gestaltet sein soll.
Bürgerinnen und Bürger mehr in die Entwicklung der EU der Zukunft involvieren
Ohne ausreichenden Rückhalt durch die europäischen Bürgerinnen und Bürger haben die europäischen Institutionen und Werte keine Zukunft. Ein Ansatz, der die Bürgerinnen und Bürger ins Zentrum stellt, würde eine Neuorientierung verlangen, sowohl innerhalb der EU als auch in ihren auswärtigen Angelegenheiten. Brüssel wird oft als „zu weit weg“ und „unerreichbar“ wahrgenommen. Ein bürgernaher Ansatz würde gemeinsame Anstrengungen der EU-Institutionen und der Mitgliedstaaten benötigen, aber auch die Beteiligung von Zivilgesellschaft, lokalen Verwaltungen und Bürgerinitiativen. Friedensgruppen und die restliche Zivilgesellschaft müssten darüber nachdenken, wie sie in den Prozess am besten einsteigen können.
Speziell junge Menschen mehr in die Entwicklung der EU der Zukunft involvieren
Eine der wesentlichen gesellschaftlichen Klüfte verläuft aktuell entlang des Alters. Den jungen Menschen in wichtigen Debatten um die Zukunft der EU mehr Raum zu geben ist entscheidend, weil die Themen Klimawandel und Technologie ihre Zukunft prägen werden. Auch die Friedensorganisationen sollten junge Menschen mehr beteiligen, und Entscheidungsträgerinnen und -träger sollten mehr und besser mit ihnen zusammenarbeiten.