Als eines der wasserärmsten Länder der Welt besteht Jordanien größtenteils aus einer Vielzahl von Wüstengebieten. Fruchtbares Land ist rar, doch im weniger bekannten Norden Jordaniens, an der Grenze zu den Golanhöhen und zu Syrien, sorgen zwei Flüsse für eine vergleichsweise grüne Landschaft. Angesichts des mediterranen Klimas ist es nicht verwunderlich, dass die zweitgrößte Stadt Jordaniens, die in diesem Gebiet liegt, einen hohen Stellenwert in den Herzen ihrer Bewohner*innen hat.
Für Außenstehende mag Irbid nicht sofort als der schönste Ort Jordaniens erscheinen. Seit Beginn der Syrienkrise hat Irbid rund 400.000 Flüchtlinge aus dem Nachbarland aufgenommen, wenngleich keine genauen Zahlen vorliegen. In nur neun Jahren hat sich die Einwohner*innenzahl der Stadt verdoppelt. Die Infrastruktur und der Wohnraum mussten rasch ausgebaut werden. Irbid wirkt dadurch etwas improvisiert und gleicht einem Spielplatz für gewagte architektonische Experimente. Pyramidenförmige Restaurants, große Möbelhäuser, ein lebhaftes, gut besuchtes fünfstöckiges Café und Restaurant mit Blick auf Ebenen und verstreute Wohnhäuser. Es ist auch eine Stadt mit vielen versteckten Juwelen, wie wir bei unserem Besuch noch herausfinden werden.
Trotz Corona kein Stillstand
Wie so häufig liegt der Zauber dieser Stadt in der Großzügigkeit und Kreativität der Menschen. Zwei unserer Partnerorganisationen sind in der Gegen rund um Irbid aktiv und setzen sich erfolgreich für ein harmonisches Zusammenleben zwischen syrischen Geflüchteten und jordanischen Anwohner*innen ein. Da die Regierung im Sommer Bewegungsbeschränkungen im Zusammenhang mit Covid-19 verhängt hatte, war es schwierig, Treffen und Workshops zu organisieren. Doch anstatt die Krise einfach auszusitzen, tauchten im Land immer mehr Initiativen auf, die die Menschen zusammenbringen und soziale Aktivist*innen miteinander verbinden. Der einzige Unterschied zu vorher ist, dass diesmal alles online stattfindet.
Eine dieser neuen Initiativen ist „Hokuke“ („Meine Rechte“). Die Initiative wurde von vier jungen Menschen aus Irbid gegründet. Hokuke ist eine Online-Plattform, die komplizierte Rechtsvorschriften anhand von lustigen Videos und Texten erklärt und dadurch für die Allgemeinheit verständlich macht. Das Ziel der Initiative ist es den Menschen zu helfen, ihre Rechte besser zu verstehen und zu nutzen. Als wir beim forumZFD auf Hokuke aufmerksam wurden, wollten wir die vier jungen Gründer*innen unbedingt persönlich kennenlernen.
Ein paar Monate später wurden die Corona-bedingten Einschränkungen in Jordanien beträchtlich gelockert, sodass wir schließlich ein Treffen mit Hokuke vereinbaren konnten. Wir machen uns also auf den Weg zu dem Jugendzentrum in Irbid, welches sie derzeit als Büro nutzen, und halten nach einer Weile neben einer viel befahrenen vierspurigen Straße in einem Vorort vor einem kleinen Supermarkt. Kein Jugendzentrum in Sicht. Die Adresse kann nicht stimmen, denken wir. Nach einem kurzen Telefonat steigt meine Kollegin aus dem Auto und fordert uns auf, ihr zu folgen. Im Hinterhof hinter dem Supermarkt finden wir eine Treppe, die in einen Keller führt. Während wir noch zögern, ob wir am richtigen Ort gelandet sind , öffnet sich plötzlich die Tür, und wir blicken voller Überraschung in einen geräumigen, luftigen und stilvollen Co-Working- und Kulturraum. Der ursprüngliche Charakter des Untergeschosses ist erhalten geblieben: Sichtbetonwände und Metallbalken an der gesamten Decke. Es gibt eine Bühne mit Gitarren, die Wände dienen als Leinwände für Street Art und eine Shop-Ecke mit jordanischen Modeartikeln. Gerade findet ein Fotoshooting statt, und in der Ecke wird ein großer Konferenztisch von Bücherregalen eingerahmt. Am Konferenztisch erwarten uns die Gründer von Hokuke – Hamza, Rahme, Ahmad und Emad – mit einem breiten Lächeln und bieten uns an, uns zu ihnen zu setzen.
Rahme, die von Beruf Reporterin ist, zeigt uns die Räumlichkeiten. Sobald Hokuke ein eigenes Büro hat, solle es ähnlich aussehen, meint sie. Die hippe Umgebung harmoniert sehr gut mit dem Charakter der noch jungen Initiative: Hokuke erscheint uns als eine sehr dynamische Gruppe, jedes Mitglied mit ausgeprägten Talenten, die sich perfekt ergänzen. Da ist Hamza, der Anwalt, der dem Team die Gesetze erklärt, die Reporterin Rahme, die die sperrige juristische Sprache in in verständliche Inhalte umformuliert, Ahmed, der für die eingängige Gestaltung der Videos verantwortlich ist, und Emad, der den Social-Media-Account verwaltet.
Die Gründer*innen von Hokuke sind überzeugt, dass komplizierte juristische Formulierungen ein Hindernis für den Zugang der Menschen zu ihren Rechten darstellen und Gesetze daher oft missverstanden werden. Es gibt viele einschüchternde und manchmal sogar falsche Informationen über verschiedene Gesetze, die Verwirrung stiften und die Bevölkerung vom Rechtssystem entfremden. Das ist etwas, was Hokuke ändern möchte. Anstatt den Status quo zu akzeptieren und sich der allgemeinen Auffassung anzuschließen, dass die Macht der Gesetze nur bei wenigen Personen liege, sollten Hokuke zufolge alle Menschen in Jordanien das Recht und das Rechtssystem als potenziellen Verbündeten betrachten.
„Viele Menschen sind sich ihrer Rechte nicht bewusst“
Um diese Kernaussage deutlich zu machen, beginnt jedes Video von Hokuke mit einer Straßenumfrage, bei der die Menschen gefragt werden, was sie über bestimmte Gesetze wissen. Anschließend erklärt ein Mitglied von Hokuke die eigentliche Bedeutung des Gesetzes, seine Auswirkungen und wie es sich konkret auf ihre Rechte bezieht. Um sicherzustellen, dass möglichst viele Menschen Zugang zu den Informationen haben, hat Hokuke englische Untertitel für die nicht-arabische Bevölkerung sowie Gebärdensprache in die Videos eingefügt.
„Viele Menschen sind sich ihrer Rechte einfach nicht bewusst“, sagt Rahme. „Ich kenne eine alleinerziehende Mutter, die dachte, sie müsse ihren Job aufgeben, weil niemand da war, der sich um ihr Kind kümmerte, während die Schulen wegen Covid 19 geschlossen waren. Sie wusste aber nicht, dass es im Arbeitsrecht ein Recht gibt, das sie und ihr Kind davor bewahrt, solche Entscheidungen treffen zu müssen. Diese Unwissenheit ist es, die wir verhindern wollen.“
Ein weiteres aktuelles Thema, das in Jordanien viel diskutiert wird, ist das kürzlich erlassene „Cyber-Gesetz“. Dieses Gesetz erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass politische Äußerungen in sozialen Medien strafrechtlich verfolgt werden. Das Gesetz wurde von der jordanischen Bevölkerung mit großer Sorge und Wut aufgenommen. Viele sahen darin eine Verletzung der Meinungsfreiheit. Infolgedessen wuchs die Angst, Meinungen im Internet zu äußern. Hamza, Rahme und das Team erkannten das Problem und erstellten ein Video, um ihren Zuschauer*innen das Problem zu erklären. Das Cyber-Gesetz wurde verabschiedet, weil die sozialen Medien kontinuierlich an Popularität gewinnen, während sie weitgehend unreguliert bleiben. Mit wachsender Beliebtheit und Anwendungen kamen auch verstärkt Hassreden und Fake News.
„Wir haben uns entschieden, ein Video zu drehen, das zeigt, welche Aussagen negative rechtliche Folgen haben können, und wir haben Alternativen gezeigt, wie man die Aussage formulieren kann, damit sie nicht gegen das Gesetz verstößt“, erklärt Rahme. Zum Beispiel kann Kritik an Beamt*innen oder einer öffentlichen Person als Diffamierung gelten, aber es hängt davon ab, wie man die Kritik äußert. Das Video erklärt: „Objektive Kritik, also die Verantwortlichkeiten der Person zu kritisieren und nicht ihr persönliches Leben, ist im Rahmen Ihrer gesetzlichen Rechte.“ Hokuke will verhindern, dass Menschen aufgrund ihrer Unwissenheit rechtlich zur Verantwortung gezogen werden.
Alle Themen, an denen Hokuke arbeitet, sind in Jordanien hochaktuell und wichtig. „Wir entscheiden über die Themen aufgrund dessen, was wir auf der Straße hören“, erklärt Hamza, „und auch aufgrund persönlicher Erfahrungen. Beispielsweise sind wir derzeit dabei, Hokuke als Organisation zu registrieren, und das ist ein langwieriger Prozess. Wir lernen auch eine Menge darüber. Wir planen ebenfalls eine Schritt-für-Schritt-Anleitung für andere Initiativen, damit sie sich auch als Organisation registrieren können.“ Auch das Urheberrecht ist ein wichtiges Thema: Emad erlebte hautnah, wie jemand seine Idee gestohlen hat. Infolgedessen recherchierte er zur Rechtslage bei Urheberrechtsverletzungen. Um anderen Menschen diese Ungerechtigkeit zu ersparen und Menschen mit ähnlichen Problemen zu helfen, hat Hokuke ein Video erstellt, das zeigt, wie Menschen ihr geistiges Eigentum schützen können.
Die nächsten Videos sind bereits in Planung. Hokuke versucht, immer effektivere Wege zu finden, um noch mehr Menschen zu erreichen. Aktuell sind die Themen Scheidungsgesetze, wie sich Frauen schützen können, sowie Finanzgesetze im Fokus. Es ist wirklich inspirierend, diesen vier Leuten zuzuhören, wie sie daran arbeiten Menschen zu ermutigen, für ihre Rechte einzustehen.
„Es gibt noch viel zu tun!“
„Wir wollen, dass die Menschen wissen, dass sie das Recht zu ihrem Vorteil nutzen können, dass sie Rechte haben, und dass sie ihre rechtlichen Verhältnisse erkennen und gestalten können“, so Rahme abschließend. „Wir sind sehr stolz auf das, was wir bereits erreicht haben, aber natürlich gibt es noch viel mehr zu tun! Hoffentlich werden die Menschen in Zukunft, wenn sie sich der Gesetze mehr bewusst sind, auch das Rechtssystem mitgestalten und dazu beitragen, Gesetze zu ändern oder solche zu schaffen, die zu einer gerechten Gesellschaft beitragen.“ Ein interessanter Gedanke: Das Gesetz als eine friedliche Waffe für die Menschen in Jordanien.
Wir denken oft an Frieden als eine direkte harmonische Interaktion zwischen Menschen, also Dialoge führen und eine Beziehung zueinander aufbauen. Aber wer sagt, dass Beziehungen nur zwischen Menschen sein müssen? Sollte Hokuke weiterhin Erfolg haben, könnten wir Zeugen einer Gesellschaft werden, die eine lebendige Beziehung zu ihrem Rechtssystem hat und dieses so gestaltet und formt, dass eine friedliche Zukunft in diesem Land gesichert ist.
Das Interview wurde auf Englisch und Arabisch geführt. Jana Abdo unterstützte das Interview als Übersetzerin und Co-Autorin.